English


„Wer das Landleben mit friedlicher Idylle gleichsetzt, der ist ein Träumer und vor allen Dingen ein Idiot“. Wow, das hatte gesessen. Wo ich diesen herben Satz zu hören bekam? Im Bayerischen Voralpenland. Eine rüstige Bäuerin hatte mir diese Weisheit an den Kopf geknallt, als mein Mann und ich ein Objekt zur Miete am Land besichtigten. Und wir wollten dort keinen Hof betreiben, wir wollten dort einfach nur wohnen…

Aber sei’s drum. Ein Funken Wahrheit mag ja vielleicht auch dran sein. Wer also sein Leben „aufs Land“ verlegt, sollte wohl einen gewissen Realismus angesichts der anstehenden Herausforderungen mitbringen. Aber gar keine Träume? Keine Ideale? Nichts?

Über Träume und Werte, aber insbesondere über seine Motivation und seine Ziele würde ich mich allzu gerne mit einem unterhalten, der mit seinem farm-to-table Projekt sein Leben tatsächlich ganz aufs Land verlegt hat: Lee Xian Jie. Nur dass wir hier nicht vom Bayerischen Voralpenland sprechen, sondern von Ryujinmura, einem Dorf tief in den Bergen von Wakayama.

Was daran interessant sein soll, sich mit einem zu unterhalten, der im japanischen „Nirgendwo“ lebt? Vieles – denn es geht bei Ryunohara um eine Geschichte, bei der ich vermute, dass es eben doch um Ideale und Träume geht. Aber wir sprechen von Träumen, die mit Luftschlössern rein gar nichts gemein haben. Im Gegenteil, diese Träume erfordern viel Engagement und Arbeit, um überhaupt erst ins Leben gehoben zu werden.

© Craft Tabby

Was ist der Plan hinter Ryunohara? Ein Café? Eine Farm? Oder einfach ein Aussteigerprojekt?

Beginnen wir mit Ryujinmura (Dragon God Village), einem Dorf mit ca. 3500 Einwohnern tief in den Bergen der Kumano-Region. Mainstream-Attraktionen oder touristische Ströme sind hier nicht zu erwarten. Was es dafür gibt ist ein traditioneller ländlicher Lebensraum gerahmt von Natur, Natur und wieder Natur. Die Gegend ist beeindruckend, nicht plattes Land, sondern bewaldete Berge, Täler aus denen der Nebel aufsteigt, Flüsse, die sich durch die Täler winden.

© Craft Tabby

Und hier und da – vereinzelte Ansammlungen von Häusern – der Mensch muss ja auch irgendwo seinen Platz finden. Lees Nachbaren bauen Gemüse an, lokale Betriebe und Handwerker halten die Welt am Laufen. Wir sprechen also von ganz normalem ländlichen Leben in Japan. Was es auch gibt, und wofür Ryujinmura sogar bekannt ist, sind einige Onsen, also heiße Thermalbäder, sowie eine entsprechende Infrastruktur drum herum. Ein paar Besucher sollte es also doch hin und wieder nach Ryujinmura ziehen.

Ob hier noch viele junge Leute leben? Ich weiß es nicht genau, aber ich wage es zu bezweifeln. Denn was viele ländliche Regionen in Japan gemein haben, ist das Thema Landflucht. Junge Menschen ziehen in die Stadt, um „gut bezahlte“ Arbeit und andere vermeintliche Annehmlichkeiten zu finden. Viele, viele Hektar und auch die dazugehörenden Häuser liegen demnach im ländlichen Raum brach. Sie sind einfach verlassen. Es sollte daher ein recht beschauliches Leben sein, das Lee in Ryujinmura vorgefunden hat.

Und doch – genau hier hat Lee, gebürtig aus Singapur, einfach mal angefangen. Er bewirtschaftet nun ein Stück Land (ein halber Hektar), auf dem auch mehrere alte Bauernhäuser (Kominka) stehen. Sein kleines Reich liegt ca. 5 km abseits der Onsen. Was er sich hier vorgenommen hat? Er will ein farm-to-table Café eröffnen, wo seine Gäste Spezialitäten aus Singapur und aus Ryujinmura genießen können, aus natürlichen Lebensmitteln, die er selbst anbaut oder von den Nachbarn zukauft, mit Tee und Honig aus eigener Ernte. Sogar Teeseminare soll es einmal geben, denn Tee wächst einfach ganz ursprünglich auf seinem Grund oder in den Wäldern drum herum.

Kling gut – kommt aber durchaus mit Hürden daher, denn auch sein Stück Land war lange Zeit nicht bewirtschaftet, die Häuser, eines ist sogar 120 Jahre alt, standen leer und… nun, wurden dadurch nicht besser. Es ging also zunächst einmal darum, den Dschungel, den er gepachtet hat, wieder zu lichten und vor allen Dingen, eines der Häuser wieder bewohnbar zu machen. Vor Beginn der Pandemie hatte Lee noch in Vollzeit als selbständiger Tourguide in Kyoto gearbeitet und gelebt.

Ryunohara: was muss man tun, um brachliegendes Farmland und ein verlassenes Haus in Japan wieder zum Leben zu erwecken?

Was hat Lee zum jetzigen Zeitpunkt also bereits geschafft? Zunächst das Offensichtlichste – der Kampf mit dem Dschungel. Lee hat das überwucherte und verwildertes Land in Angriff genommen und erst einmal gerodet, größtenteils mit der Motorsense, denn wie gesagt, es handelt sich um durchaus hügeliges Land. Er hat alte Pflanzen, wie Bäume und Teebüsche wieder freigelegt und gepflegt, Blumen gepflanzt und Bienenhäuser aufgestellt. Zudem hat er vor seinem Haus Gemüsebeete angelegt, wo er streng nach dem Prinzip no-dig (Charles Dowding), no pesticides, no chemical fertiliser vorgeht, also ein vollkommen natürlicher Anbau, der das Land nicht belastet oder ausbeutet.

Von den drei Häusern, die auf seinem Grund stehen, ist eines leider unbewohnbar. Der Zahn der Zeit hat es dahingerafft. Und dies kann bei japanischen unbewohnten Häusern sogar relativ schnell passieren, denn traditionelle Häuser sind überwiegend aus organischen Materialien gebaut, Holz, Stroh, Papier, also nichts war auf den ersten Blick für die Ewigkeit hält. Auch Lees Häuser sind von genau dieser alten, traditionellen Machart. Es sind alte japanische Bauernhäuser (Kominka), also genau von der Art, wie sie im japanischen Bilderbuch stehen würden.

Das alte Bauernhaus, in dem er nun selbst mit seinen zwei Hunden lebt, bedurfte einigem an Sanierung. Das sollte nun nicht verwundern, ist es doch 120 Jahre alt. Über die Sanierung selbst empfehle ich einfach Lees YouTube Videos anzusehen. Die zeigen den ganzen Prozess und sind wirklich spannend. Eines der Videos hat den Titel „I fell throug the floorboard at my 120-year-old Japanese Farmhouse“ – will sagen, bei der Sanierung des Hauses ging es auch an die Substanz, vom Fundament über den Holzboden bis zur Dachrinne.

© Craft Tabby

Dazu noch neue Tatamimatten, der Einbau einer traditionellen Feuerstelle im Haus sowie viele andere kleinere und größere Baustellen. Glücklicherweise scheint es in der Gegend Handwerker zu geben, die noch das traditionelle Handwerk beherrschen, das für derartige Sanierungen notwendig ist. Vieles von deren Arbeit ist ebenfalls in den Videos zu sehen.    

© Craft Tabby

Das dritte Bauernhaus wird zum eigentliche Café umgebaut… wird… falsch, natürlich baut Lee es selbst um, mit der Hilfe von guten Freunden, die etwa dabei halfen das Zinkdach neu zu decken. Professionelle Unterstützung war dennoch nötig, etwa beim Einbau eines Septic-Tanks, eines modernen Sanitärbereichs oder der Renovierung des Küchentrakts für das Café. By the way, das Café soll im August 2022 eröffnen.

© Craft Tabby

Hausrenovierung in Japan: das ästhetische Prinzip alter japanischer Häuser (Kominka)

Und nun zu dem, was ich persönlich an dem Projekt Ryunohara besonders bewundere. Es ist die Ästhetik, das Schöne, das Lee hier konserviert und schafft. Nehmen wir das 120-Jahre alte Bauernhaus, in dem er nun lebt. Es ist ein klassisches Holzhaus, faszinierend einfach und in meinen Augen gerade deshalb wunderschön. Was mir demnach ins Auge springt, ist ein wahrer Schatz an klassischer japanischer Ästhetik. Und ich weiß – ich tue mir reichlich leicht, hier nur nach dem Schönen zu schielen. Die Arbeit in den Knochen hat ja schließlich jemand anderes… sorry Lee…

Die Liebe zum Material in einem japanischen Haus

Aber sei’s drum, werfen wir einen verträumt-verklärten Blick auf das Ganze, fallen viele wunderbare Aspekte auf. Denn ganz anders als bei modernen Häusern ist auch dieses Kominka aus massiven Holzbalken gebaut, die in ihrer unprätentiösen Art im gesamten Wohnraum sichtbar sind. Auf der ebenfalls massiven Dachkonstruktion thront ein traditionelles Strohdach (Kayabuki), das wiederum zum Schutz mit einem Zinkdach überdeckt ist. Der Anblick eines solchen Strohdachs, das bis zu einem halben Meter dick sein kann, ist wirklich überwältigend. Ein weiterer Blickfang: die Holzdielen der traditionellen Veranda (Engawa), die rund um das Haus führt. Die Dielen schimmern dunkel, denn sie sind mit natürlichem Öl eingelassen und poliert. Und überhaupt – die Veranda, sie lädt zum Verweilen ein, selbst wenn es regnet, denn auch hier sitzt man wunderbar geschützt unter dem ausladenden Strohdach. Selbst wenn es regnet… ! Alles in allem geht von diesem Kominka eine beruhigende Atmosphäre aus, nicht zuletzt deshalb, weil so gut wie keine künstlichen Materialien zu sehen sind. Selbst die Außen- und Innenwände sind durchwegs aus Holz und auch die verglasten Schiebetüren hin zur Veranda sind in hölzerne Rahmen gefasst.

Licht und Schatten in einem japanischen Haus

Im Inneren des Hauses fasziniert mich neben der Intensität des Faktors Material noch ein weiterer Aspekt – das Licht. Die neuen Tatamimatten markieren in ihrer angenehm hellen Färbung den im Innen liegenden Lebensraum. Neue Tatamimatten haben einen hellen bis leicht grünlichen Farbton und dunkeln erst mit der Zeit nach. Licht fällt auch durch die Schiebetüren zwischen den Räumen, die nun mit neuem japanischem Papier (Washi) bezogen sind, natürlich aus der Fertigung des lokalen Papiermachers. Es ist ein milchiges, leicht fahles Licht, das auf das helle Tatami fällt. Stehen alle Schiebetüren offen, im Inneren wie auch nach außen, ist das Haus geflutet von Tageslicht, mit der Folge, dass das Gefühl von Innen und Außen verschwimmt.

Dem Hellen begegnet im Inneren des Hauses die Dunkelheit. Denn die hölzernen Wände sind dunkel eingelassen, ebenso wie die Schiebetüren der Schränke (Fusuma) oder die Schiebetüren zwischen den Räumen (Shoji). Sind abends oder bei schlechtem Wetter alle Elemente geschlossen, regiert im Haus die Dunkelheit. Das heißt natürlich nicht, dass Lee im gesamten Haus keine Lampen hat. Aber die meisten sind niedrige Stehlampen aus Papier, die ein warmes Licht abgeben und vor allen Dingen das Licht kanalisieren. Allzu helle oder raumerfüllende Lichtquellen sind die Ausnahme.

Ist das nun schön? Auffallenden Luxus, etwa goldene Fusuma oder prunkvolle Gegenstände gibt es in diesem Haus doch eher nicht. Das stimmt, das alles gibt es nicht. Was es aber gibt, ist das zarte Spiel mit Licht und Dunkelheit, was die eigentliche Eleganz solcher Häuser ausmacht. Es ist ein Lobgesang auf den Schatten! Nur eines noch: Das hier beschriebene ästhetische Empfinden, die Wertschätzung für das Spiel mit Licht und Schatten, all dies spiegelt das Lebensgefühl und auch das ästhetische Gefühl vergangener Tage, wie es Junichiro Tanizaki in seinem Essay „The praise of shaddows“ eindrücklich beschreibt. Und dieses ästhetische Gefühl rührt aus einer Zeit, in der es elektrisches Licht noch nicht einmal gab.    

Die traditionellen Details in einem japanischen Haus

Und noch ein wunderbares Detail, das mir an Lees Kominka besonders gefällt: die klassische Feuerstelle (Irori) im Inneren des Hauses. Von der Decke hängt der schmiedeeiserne Haken bis zur Feuerstelle herab, um Teekessel oder Töpfe über dem Feuer zu halten. In vergangenen Zeiten waren Feuerstellen wie diese das Herz des Hauses. Hier wurde traditionell gekocht, gegessen und gesessen. Manchmal sitzt Lee an seinem Irori und röstet Tee, den er hinter dem Haus geerntet hat oder grillt Fisch über der glühenden Holzkohle (Binchotan, übrigens auch ein jahrhundertealtes Handwerk in Japan).

Haus und Hof stehen, wie bereits beschrieben, umringt von reichhaltiger Natur. Natürlich ist auch das ein wichtiger Aspekt im Sinne des ästhetischen Empfindens. Denn der Blick aus dem Haus fällt im Sommer ins Grüne, im Winter auf eine dicke Schneedecke. All dies ist schön, wunderschön sogar, hat aber auch seine Tücken – in Form von Insekten, Schlangen, die im hohen Gras liegen oder gar Affen, die das Gemüsebeet plündern wollen. Der Schnee mag da noch die geringste Herausforderung sein.

Das Leben hier will demnach gelebt werden wie es das Haus, die Natur und die Rhythmen der Natur vorgeben. Ich schätze, auch seine zwei Hunde werden einen guten Teil von Lees Lebensrhythmus vorgeben. Das ist ein völlig eigener Way of Life – würde ich sagen – zumindest ein anderer Lebensrhythmus als in der Stadt, zusammen mit Freunden und den Menschen des Dorfs und der Umgebung.

Ist das Leben am Land und in einem alten Kominka bequem?

Das Leben in den japanischen Bergen ist also schön – aber ist das nun immer bequem oder komfortabel hier in der ländlichen Region oder in solch einem alten Haus zu leben? Nun, auf allzu großen Komfort wird Lee zumindest zu Beginn seiner Reise verzichtet haben. Natürlich gab es in Häusern dieser Art keine Zentralheizung oder Klimaanlage, kein modernes Bad mit Fußbodenheizung. Ein Kominka wie dieses ist im Winter kalt (Lee heizt aktuell mit kleinen Kerosinöfen), im Sommer heiß (gegen Hitze und Moskitos helfen kleine mobile Kühlgeräte und Räucherwaren). Ein Kominka ist kein Selbstläufer, man muss es pflegen, lüften, lieben. Das Leben hier mag zwar magisch sein, aber nur, wenn man es auch so sieht.

Generationen von Japanern vor ihm wollten genau diesen Lebensstil hinter sich lassen. Sie wollten raus aus dem ärmlichen Leben im dunklen „Holzverschlag“, um endlich mehr Komfort zu haben. Ja, sie sehnten sich nach hellen modernen Räumen mit grellstem Halogenlicht. Das Problem, dass so viele alte Häuser in Japan leer stehen, ist somit schon vor einigen Generationen entstanden, als jene, die noch den traditionellen Lebensstil pflegten, das Weite suchten.

Warum wählte Lee mit Ryunohara ein Leben auf dem Land?

Fakt ist somit, dass Lee ein ganz anderes Leben als viele Millionen Japaner in seinem Alter führt. Er ist ganz sicher kein klassischer „Salaryman“, der in einem kleinen aber modernen Apartment in der Stadt lebt. Sein Leben erscheint mir gar wie ein drastischer Gegenentwurf zum modernen Japan der Stadt.

Daher nun zur springenden Frage: wieso macht Lee das Ganze eigentlich? Was sind die Gründe dafür, sich diesem Projekt und diesem Leben zu verschreiben? Ich vermute, er hat gute Gründe, denn vielleicht ist er ja doch ein Träumer, aber ganz sicher kein Idiot. Mich interessieren schlicht und einfach die Motive, die Menschen veranlassen, solche Projekte in Angriff zu nehmen.

Ehrlich gesagt, woran mich Ryunohara, also das Vorhaben mit dem Café, der Farm und den alten Kominka erinnert, sind Projekte im Zuschnitt von Alex Kerr oder Sarah Marie Cummings. Sie widmeten sich schon vor vielen Jahren dem Erhalt alter Häuser (Alex Kerr), oder von alten Kulturgütern und deren Techniken, wie etwa einer alten Sake-Brauerei (Sarah Marie Cummings). Auch Sarah Marie Cummings restaurierte letztlich rund um ihre Sake-Brauerei alte Häuser und förderte dort das traditionelle kulturelle Leben. Bemerkenswert ist daran allerdings, dass es häufig Ausländer waren (es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele), die die Schönheit und den kulturellen Wert des „alten Japan“ sahen, des Japans, das wie gesagt Generationen von Japanern als ärmlich und überholt von sich stießen. Ich will dies gar nicht werten. Aber vielleicht braucht es manchmal wirklich den Blick von „Außen“, um die Schönheit und die wahre Tiefe vergangener Zeiten zu sehe. Kerr, Cummings und Co. geht es um den Erhalt Japans in all seiner Ästhetik und Nachhaltigkeit.

Und Lee? Was ist sein Selbstverständnis? Sieht er sich in der Tradition von Kerr und Cummings, oder treibt ihn etwas komplett Anderes an? Wie wichtig ist ihm der Aspekt der Ästhetik? Und was bedeutet für ihn Tradition und Nachhaltigkeit? Oder ist er einfach einer von vielen jungen Leuten in Japan, die solche Schritte immer häufiger oder gar schon ganz selbstverständlich gehen? Sprechen wir also von einer Zeitenwende in Japan – oder zumindest einem anhalten Prozess der Veränderung?  

Ich werde versuchen, genau das herauszufinden und Lee dazu befragen. Also seien Sie gespannt. Fortsetzung folgt…

Und hier ist der Link zur Ryunohara Website


Sie interessieren sich für die Themen japanische Kunst, japanische Ästhetik und Interior Design? Sie lieben die Inspiration und lesen gerne einmal einen Artikel zu diesen Themen? Dann abonnieren Sie doch einfach den Kunst aus Japan newsletter.

Just be inspired.