Wabi-Sabi ist eines von vielen Konzepten, das sich mit dem ästhetischen Wahrnehmen und Empfinden in Japan beschäftigt. Es beschreibt die Schönheit des Einfachen, des Bescheidenen und natürlich gealterten. Seit geraumer Zeit ist allerdings zu beobachten, dass industriell gefertigte Massenprodukte den Markt erobern, die sich nur allzu gern mit dem Label Wabi-Sabi schmücken. Ist das wirklich ein Trend? Oder ist es japanische Kultur ad absurdum geführt?


Seit vielen Jahren drehen sich meine Gedanken um den Begriff Wabi-Sabi. Ich liebe diese Philosophie, oder sagen wir besser, das ganze Prinzip. Alles ist einfach aber irgendwie doch fürchterlich kompliziert. Gerade deshalb habe ich mich oft gefragt, welcher sensible und kulturell bewanderte Mensch wohl imstande wäre, eine verständliche aber doch präzise Zusammenfassung über Wabi-Sabi verfassen. Ich werde ja schon nervös, wenn ich gebeten werde, über Wabi-Sabi zu sprechen, geschweige denn darüber zu schreiben.

In dem Wissen um meine Grenzen zum Thema Wabi-Sabi hatte ich mich vor einigen Jahren aufgemacht, um mit japanischen Künstlern, Professoren und Bekannten über dieses Konzept zu sprechen. Was ich zur Antwort bekam? Demut. Wabi-Sabi sei ein sehr komplexes Thema. Niemand kann es so richtig erklären. Vielleicht kann man es ohnehin nur fühlen. Ach, Wabi-Sabi sei einfach…

Tja, und dennoch scheint das Thema aktuell ein immer größeres Publikum zu interessieren. Dann packen wir das Ganze am besten in naiver Art und Weise bei den Hörnern. Wabi-Sabi, worum dreht es sich da eigentlich?

Ganz allgemein gesprochen handelt es sich um eines von vielen Konzepten, das sich in Japan mit der ästhetischen Wahrnehmung und Empfindung beschäftigt. Und Ästhetik, das kann ich Ihnen versichern, ist nichts Triviales in Japan.

Ein wenig Background zu den Begriffen Wabi und Sabi

Alles beginnt mit zwei Worten – Wabi und Sabi. Beide haben eine lange Tradition, die bis in das 15. und sogar das 13. Jahrhundert zurückreicht.

Die heutige Bedeutung von Sabi lässt sich von unterschiedlichen Begriffen ableiten.

sabu: abflauen, verschwinden

susabi: kann unter anderem Verwüstung bedeuten

sabiteru: rostig werde, alt werden, altern

sabishi: einsam oder traurig

Meine persönliche Assoziation mit Sabi ist der Ausdruck „Spuren der Zeit“. Gemeint sind jene Spuren, die die Zeit an einem Gegenstand oder an einem Material hinterlässt, z.B. Rost, Verwitterung oder Verfärbung.

Zugegeben, nach Ästhetik klingt dies zunächst nicht. Vielmehr entsteht der Eindruck, als würden wir von etwas ärmlichem, traurigem und hässlichem sprechen. In der Tat war in der japanischen Literatur, etwa im 11. Jahrhundert, sehr häufig von trostlosen und einsamen Gefühlen die Rede. Doch mit der Zeit entwickelten Theoretiker hieraus einen Ansatz, der explizit mit Schönheit in Verbindung stand. Das langsam schwindende und alternde wurde letztlich mit Größe und Schönheit belegt.

Ästhetisch betrachtet steht Sabi heute für Altes und Abgegriffenes mit Patina und fehlerhaften Stellen, aber auch für Reife und Größe. Es ist die Schönheit jener Dinge, die die Spuren des Lebens tragen.

Der Begriff Wabi? Er kommt von vage oder verloren. Suzuki Daisetz, ein vielzitierter Interpret der Zen-buddhistischen Lehren, beschreibt Wabi als Ästhetik der Armut. Auch das klingt wenig schmeichelhaft. Aber gekoppelt an die buddhistische Idee von Genügsamkeit und der Ablösung von Materie und Konsum, ist auch dies positiv gemeint. Zudem steckt in Wabi die Silbe wa. Wa steht für Harmonie, Ruhe und Frieden.

Ästhetisch betrachtet steht Wabi für das absolut Einfache und Unverfälschte. Es steht für die Schönheit der unprätentiösen Dinge, für Schlichtheit und Erhabenheit trotz Fehlern und Unvollkommenheit. Und es geht um natürliche oder zumindest organisch wirkende Dinge und Räume, denn Harmonie geht in Japan im weitesten Sinne mit Natur einher.

Alles ist vergänglich, nichts ist fertig, nichts ist perfekt

Wabi-Sabi beschreibt demnach die Schönheit des Einfachen, Bescheidenen und natürlich gealterten, sprich, der Vergänglichkeit. Aber – und dies ist möglicherweise das Wichtigste – Wabi-Sabi ist keine Verzichtserklärung. Es geht um ein ganz anderes Ansinnen – es geht um Harmonie.

Als Inbegriff der Wabi-Sabi Ästhetik gelten einfache, unregelmäßige und vom Gebrauch gezeichnete Raku-Teeschalen, die so gern in der Teezeremonie zum Einsatz kommen. Aber auch einfache Teezeremonie-Instrumente aus Bambus und Eisen zeugen von diesem Konzept. Nichts ist glatt und übertrieben glänzend, nichts ist perfekt. Selbst einfache Tatami-Räume, die in ihrer Schlichtheit beinahe schmucklos wirken, sind Ausdruck des Wabi-Sabi Geistes. Im explizit künstlerischen Sinne sprechen wir z.B. von schlichter Zen-Malerei oder Kalligraphie.

Sie haben diese Bilder vor Augen? Dann kommt nun der Twist.

Denn ich musste wirklich lachen, als mir zum ersten Mal Wabi-Sabi in München über den Weg gelaufen ist – in einem Einrichtungshaus. Das gleiche ist mir wenig später in der Haushaltswarenabteilung eines Kaufhauses und im Gartencenter meines Baumarktes passiert. In Lifestye Magazinen wird der neue Wohntrend ausgerufen und jedes halbwegs krumme Schüsserl nennt sich plötzlich Wabi-Sabi, auch wenn es im Grunde ein industrielles Massenprodukt ist.

Ist Wabi-Sabi tatsächlich ein neuer Trend? So ähnlich wie Vintage oder Shabby Chic?

Tja, das ist die große Frage. Es ist wohl an uns, dies zu bewerten. Vielleicht können Sie hervorragend mit Wabi-Sabi leben, solange nur endlich jemand mit den langweiligen runden Tellern aufräumt. Vielleicht sträuben sich Ihnen auch fürchterlich die Haare, weil ein industrieller Teller, egal wie zerbeult er aussehen mag, schon per Definition kein Wabi-Sabi ist.

Wie gesagt, ich musste einfach nur lachen. Ich bin kein Dogmatiker, aber „auf Knopfdruck produziertes“ Wabi-Sabi ist natürlich mehr als lustig, da es so offensichtlich dem Geist von Wabi-Sabi widerspricht.

Aber kann demnach gar nichts Neues Wabi-Sabi sein? Das wäre vermessen und nein, das heißt es in meinen Augen nicht. Das entscheidende aber ist die Handwerkskunst. Auch eine neue Teeschale kann den Geist von Wabi-Sabi beheimaten, wenn sie von Hand gefertigt ist und „dem Prinzip“ der schlichten Schönheit entspricht. Die Spuren der Zeit trägt sie in diesem Moment eben noch nicht. Aber auch ein neues Haus kann im Sinne von Wabi-Sabi mit einfachen, natürlichen oder sogar alten Materialien errichtet sein.

Entscheidend aber bleibt die Handwerkskunst, ist ihr doch eines immanent – sie erfordert Übung, Zeit und die Auseinandersetzung mit der realen Welt. Wabi-Sabi ist der Inbegriff der realen Welt und damit der zwingende Antagonist zur digitalen Wirklichkeit. Koren beschreibt dies so: „Die digitale Realität(…) existiert nur, wenn jemand sie aktiv erzeugt(…). Alles Digitale müsse in einer binären Struktur von „eins“ oder „null“ kodiert werden. Zwischen eins und null ist nichts. Aber genau in dieser Unendlichkeit zwischen eins und null ist Wabi Sabi angesiedelt.“

Doch zurück zur Frage nach dem Trend. Bei allem Sinnieren wird doch eines deutlich. Wabi-Sabi ist mehr als sehen oder verstehen – Wabi-Sabi ist Irgendetwas zwischen null und eins. Das ist vage und doch wird eines mehr als deutlich: Wir müssen unsere Sinne öffnen, um das Außergewöhnliche zu erkennen, das wir sonst verpassen oder vielleicht als unauffällig abtun. Wabi-Sabi Objekte oder Räume werden nie nach der Aufmerksamkeit oder den Emotionen des Betrachters buhlen. Wabi-Sabi geschieht. Wie lässt sich aber verkaufen, was einfach nur geschieht? Wie lässt sich vermarkten, was in seinem Wesen so bescheiden und kaum zu greifen ist?

Ach ja, über die Emotionen, stimmt, Sie haben recht. Schön, dann vermarkten wir wohl irgendwelche Emotionen, nur Wabi-Sabi ist das leider nicht. Wirkliches Wabi-Sabi zu vermarkten dürfte schwierig sein. Wabi-Sabi als reproduzierbarer Trend? In meinen Augen – nein.

Heißt das, dass man Wabi-Sabi am Ende doch nur in Japan wirklich erfahren kann? Wabi-Sabi hat seine Wurzeln in Japan, aber ich bin mir sicher, dass es überall erfahrbar ist, wo Einfachheit und Natürlichkeit zusammenwirken.

Wabi-Sabi Interior Design

Jemand, der Wabi-Sabi Interieurs kreiert wie kein anderer (und er ist kein Japaner!), ist Axel Vervoordt. Ja, er kreiert, aber er imitiert nicht. Er hat Wabi-Sabi in Japan studiert und lebt das Prinzip in beinahe spiritueller Art und Weise. Und er versteht zu integrieren, was sich viele nicht trauen: Leere. Er gestaltet Häuser in Japan, in seiner Heimatstadt Antwerpen und in unterschiedlichsten Regionen der Welt. Sein Buch Inspiration Wabi ist eine Hommage an Wabi-Sabi. Ich bin mir sicher, nach der Lektüre dieses Bildbandes, der auch sehr einfühlsame Texte enthält, werden Sie Wabi-Sabi ein gutes Stück besser verstehen.

Quellen: Axel Vervoordt Inspiration Wabi, Donald Richie A tractate on Japanese aesthetics, Jun’ichirô Tanizaki Lob des Schattens, Leonard Koren Wabi-Sabi. Woher? Wohin? Weiterführende Gedanken