Kabuki-Schauspieler – sie waren begehrenswert, sexy und Ikonen der Modewelt. Viele von ihnen waren umwerfend schön. Sie verkörperten Eleganz und das gehobene Spiel um Koketterie und geheime Lustbarkeiten. Sie standen aber auch für das Verbotene, waren verrucht und häufig männliche Prostituierte. Als Individuen gehörten sie nicht einmal dem gesellschaftlichen Ständesystem an. Kabuki-Schauspieler verkörperten Sex, Drugs and Rock ‘n Roll und eine gehörige Portion an Dekadenz. Das alles? Oh ja, und wen wird es wundern – genau diese Mischung machte Kabuki-Schauspieler zu Superstars, zu Superstars der Edo-Zeit. So sah das zumindest ein Großteil der „Society der Edo-Zeit“. In jedem Fall waren Kabuki-Schauspieler Personen von öffentlichem Interesse mit einer unerhörten medialen Präsenz.

Betrachten wir die Kabuki-Welt, so sprechen wir von einer grellen, glänzenden Welt, auf der Bühne und auch drum herum. Genau diese Welt werden wir in diesem Artikel beleuchten, das Grelle, das Dekadente und das Leuchtende. Klingt interessant? Ist es auch. Für einige drängt sich bei diesen Schlagworten aber doch eine Frage auf. Wie passt das denn alles zu dem wunderschönen Japan? Zu Zen, Meditation, Poesie und Achtsamkeit, zur Ästhetik des Natürlichen, des Schlichten und der Reduktion?

In diesem Artikel begeben wir uns folglich auf eine kleine kulturelle Reise, eine Reise durch Stil und Geschmack aber auch durch die Massenkultur der Edo-Zeit.

Wie ist das nun in Japan – Ritual und Achtsamkeit oder sexy Superstars und unbändige Lebenslust?

Ich stelle immer wieder fest, dass es ein liebevoll verklärtes, zumindest aber ein recht einseitiges Bild von der Kultur Japans, der Ästhetik Japans oder sagen wir einfach dem Look and Feel Japans zu geben scheint. Schnell fallen Begriffe wie Wabi-Sabi, Teezeremonie, Achtsamkeit und Waldbaden, Meditation, Zen-Gärten und Häuser aus Holz und Papier gemacht. Gerade jene, die Japan das erste Mal bereisen, scheinen genau dieses Japan vor Augen zu haben. Das Japan der alten Farbholzschnitte und der vielen Bildbände über die Schönheiten des Lands. Und in der Tat, so viele Bücher suggerieren genau das, etwa das kürzlich erschienene Buch Japan Achtsam Reisen, by the way, ein wunderbares Buch.

Nun muss man natürlich einräumen, dass es dieses Japan auch tatsächlich gibt, zumindest bei genauerer Betrachtung. Wer es will, wird es finden, das ritualisiertes Japan, wo jeder Stein und jedes Sandkorn an der richtigen Stelle liegen, Etikette, ein überlebensgroßes Prinzip. Natürlich gibt es Zen-Klöster und -Gärten, ryokan (Hotels im traditionellen japanischen Stil) oder onsen (natürlich heiße Thermalbäder). Sie werden auch das alte Handwerk noch finden, das in kleinen Werkstätten mit größer Hingabe praktiziert wird, sowie alte minka (traditionelle Bauernhäuser aus Holz und Lehm). Selbst in den Städten und im modernen Leben gibt es Momente und Winkel, die aus der Tiefe der klassischen ästhetischen Prinzipien schöpfen. 

Wer aber am Flughaben Narita japanischen Boden betritt und wie die meisten Reisenden die ersten Schritte in Tokyo macht, den trifft vermutlich der Schlag. Denn hier steppt der Bär, zumindest in weiten Teilen der Stadt. So gibt es in Tokyo Stadtviertel, in denen es aufgrund der grellen Leuchtreklame an den Fassaden keine Straßenbeleuchtung mehr braucht. Lautstarke An- und Durchsagen, ob in Verkehrsmitteln, Aufzügen, Supermärkten oder anderen Orten des täglichen Lebens betäuben die Ohren und die Sinne. Und überall Konsum. Konsum ist der Kitt der Gesellschaft. So scheint es, denn ein Hochglanz-Einkaufstempel reiht sich an den nächsten. Die Menschen drängen sich im Nachtleben, zwischen hochpreisigen Bars und billigem Fastood. Und wer einmal in einer Pachinko-Halle (Spielhöllen voller Glücksspielautomaten) gelandet ist, wähnt sich schnell im Vorhof zur Hölle. 

Und wo ist jetzt dieses schöne Japan? Dieses harmonische, entschleunigte, achtsame Japan, nach dem wir modernen Menschen uns doch so sehr sehnen?

Ich hatte es in diesem Blog schon mehrfach erwähnt: Japan ist für mich das Land, das die größtmöglichen Gegensätze einfach nebeneinanderstellt und auch lebt. Alles ist und darf sein. So ist auch der Spagat zwischen Zügellosigkeit und Tugend gar kein wirklicher Spagat. Die beiden Pole stehen scheinbar problemlos nebeneinander, denn Japan ist immer Schwarz und Weiß zugleich.

Über den ästhetischen Wert dieses grellen Japans und die Befriedigung, die man aus dem quirligen Japan zieht, will ich nicht urteilen. Das überlasse ich jedem selbst. Fakt ist aber, dass das Leben in Japan eben auch pulsiert, den Vergnügungen gefrönt wird, konsumiert wird, die Oberflächlichkeit zum Spiel gehört. Japan ist nicht nur Tiefgründigkeit und Tugend, es versteht sich auch in Hedonismus und lauter Lebenslust. In der Edo-Zeit war das nicht viel anders und die Welt des Kabuki-Theaters ist das beste Beispiel dafür.

Kleiner Einschub: Kabuki, Edo und die Edo-Zeit

Das Kabuki-Theater – es zählte neben dem Besuch eines Sumo-Kampfes oder dem einer Kurtisane zu den begehrtesten Vergnügungen der Edo-Zeit (1603-1868). Theater – sportlicher Wettkampf – erotisches Vergnügen – klingt universal und zeitlos, auch aus heutiger Sicht. Und doch ist die Edo-Zeit mit nichts zu vergleichen. Meiner Meinung nach mit wirklich gar nichts. Wie also stand es nun um das Vergnügen im alten Japan?

Über die Edo-Zeit habe ich etwas ausführlicher in dem Artikel Sex, Drugs and Rock’n Roll. Die Kunst der Edo-Zeit geschrieben. An dieser Stelle sollte daher ein knapper, vereinfachter Überblick genügen.

Die Edo-Zeit wurde nach der damals noch unbedeutenden Burgstadt Edo benannt, die Fürst Tokugawa Ieyasu nach dem Durchsetzen seiner Alleinherrschaft (Ernennung zum Shôgung 1603) über Japan zum politischen Zentrum erhob, also zur Hauptstadt Japans.

Eine augenscheinliche Besonderheit der Edo-Zeit ist der Umstand des 250 Jahre währenden Friedens, der nach der sogenannten „Zeit der streitenden Reiche“, einzog. Nach langen Phasen von Gewalt und Krieg war dies durchaus ein Novum. Tokugawa Ieyasu sorgte als Reichseiniger dafür, dass das Land in gewisser Weise zur Ruhe kam. Zumindest flossen Zeit, strategische Überlegungen, Energie und Manpower von nun an nicht mehr in die kriegerische Auseinandersetzung, sondern in Stabilisierung, Aus- und Aufbau des Landes – und das in wirtschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht.  

Als Akt der Stabilisierung war auch die weitgehende Abschottung Japans, sakoku, zu verstehen. Zum einen sollten störende Einflüsse von außen abgewehrt werden, vor allen Dingen das sich ausbreitenden Christentum durch die Europäer. Zum anderen ging es darum, die Daimyô, also die dem Shôgun unterstellten Lehensfürsten, die die 250 Lehen Japans für ihn verwalteten sollten, finanziell zu schwächen. Die Daimyô hätten sehr gerne über den Weg des Außenhandels Wohlstand und finanzielle Macht erwirtschaftet. Doch den Fürsten, die einst selbst um die Macht in Japan gestritten hatten, wurde ein Riegel vorgeschoben. Tokugawa Ieyasu schottete seine Insel, zumindest auf dem Papier, in alle Richtungen ab. In realita gab es zwar Schlupflöcher, wo wirtschaftlicher und auch kultureller Austausch geschah. Dennoch bewirkte die weitgehende Abschottung des Landes, dass sich die japanische Kultur jenseits gravierender Fremdeinflüsse eigenständig und ungestört entwickeln konnte. Das Ergebnis: eine kulturelle Blüte der ganz eigenen Art. Das Kabuki-Theater ist eine dieser besonderen Stilblüten.

Trotz Abschottung und eingeschränktem Außenhandel, Japan florierte während der Edo-Zeit. Der allgemeine Lebensstandard stieg deutlich an. An einigen Orten war dies in besonderem Maße zu beobachten: in den Städten. Einstige Krieger (nicht jeder war ein hochrangiger Samurai) oder auch Handwerker kamen in Scharen in die Städte. Irgendeinen Broterwerb würde es dort schon geben. Händler sorgten für Material und Verpflegung. All das klingt nach dem üblichen Kreislauf der Stadt. In Edo gab es allerdings eine Besonderheit. Zum einen war Edo die Residenzstadt des Shôguns. Zum anderen zwang der Shôgun die bereits erwähnten Lehensfürsten alle zwei Jahre für ein halbes Jahr in Edo zu leben. Deren Frauen und Kinder mussten als lebendes Pfand sogar dauerhaft in Edo bleiben. Das Ziel des Shôguns: erneut die Kontrolle und die finanzielle Schwächung der Lehensfürsten, denn die mussten neben ihren eigentlichen Residenzen teure standesgemäße Zweitwohnsitze in Edo unterhalten und eine immer wiederkehrende elende Reisetätigkeit auf sich nehmen.

Letztgenannter Aspekt ist tatsächlich wichtig, denn die Anwesenheit des Shôguns, insbesondere aber die der Daimyô und deren Familien befeuerten die Entwicklung der Stadt Edo. Die adeligen Familien (Daimyô waren in der Regel Samurai und zählten damit zum Stand des Adels) verlangten nach hochwertigen Behausungen, bester Verpflegung sowie schlicht und einfach nach Luxus. Handwerker, Kunsthandwerker und Kaufleute kamen diesen exklusiven Bedürfnissen mit großer Freude nach. Die sich in der Folge entwickelnde Wohlstandsgesellschaft war kaum mehr zu bremsen, denn Handwerker und Händler erwirtschafteten nun selbst ein nicht unerhebliches Vermögen, das auch sie wieder investierten – in Kleidung, Luxus und vor allen Dingen in das Leben selbst. Die städtische Kultur, die in diesem Umfeld entstand, hatte einen klaren Fokus: Vergnügen. Das Vergnügen reichte vom Theater, über Sumo-Kämpfe bis zu aufwendigen Festen (matsuri), von der Unterhaltung durch Geishas, über Teehäuser bis hin zum Höhepunkt aller Vergnügungen, dem vom Shôgun selbst lizenzierten Vergnügungsviertel Yoshiwara. Ein Großteil der Bürger Edos hatte also Geld und genoss die städtischen Freuden, die wirklich ihresgleichen suchten. Was in Edo begann, breitete sich natürlich auch auf andere Städte und Landesteile Japans aus.  

Dass es den nichtadeligen Bürger Edos so prächtig erging, wollte einem am Ende doch nicht gefallen – dem Shôgun und seinen religiösen Führen. Denn der materielle Aufstieg der Kaufleute und Handwerker und damit auch deren Einfluss auf die Gesellschaft widersprach dem offiziell geltenden Ständesystem. Demzufolge bekleideten Samurai (der Schwertadel) den höchsten gesellschaftlichen Stand, gefolgt von den Bauern, die durch harte Arbeit das Land ernähren. Noch unter den Bauern rangierte der Stand der Handwerker. Den niedersten Stand bekleideten die Händler oder Kaufläute, da sie lediglich über die Produktivität anderer ihren Wohlstand erzielen. Jedem Stand waren Privilegien, vor allen Dingen aber Verhaltensregeln und Pflichten auferlegt.

Das schöne Ständesystem, das dem Shôgun lange Zeit geholfen hatte, die Gesellschaft zu regulieren, bröckelte nun aber dahin, denn ganz anders als die Handwerker und Kaufleute, verarmten die Samurai, die einstigen Krieger. Der Frieden bekam ihren Geldbörsen reichlich schlecht. Noch schlimmer – sie neigten dazu, sich bei den Kaufleuten zu verschulden. Vertiefendes hierzu unter in dem Artikel Sex, Drugs and Rock’n Roll. Die Kunst der Edo-Zeit.

Diese Umkehr in der gesellschaftlichen Ordnung führte zu zahlriechen Repressalien gegenüber der nichtadeligen, also „bürgerlichen Gesellschaft“. Sogenannte Antiluxusgesetze sollten Händler und Handwerker in ihre Schranken weisen. Der Effekt war zumindest, dass diese ihren Wohlstand nur mehr sehr bedingt öffentlich zeigen durften. Doch auch die allgemeinen Verhaltensregeln für Handwerker und Kaufläute wurden durch das Shôgunat immer weiter verschärft. Naturgemäß regte sich gegen diese Form der politischen Unterdrückung ein nicht unerheblicher Widerstand. Der zeigte sich unter den Betroffenen in verdeckter und sogar in offener Form. Auch dazu mehr in dem Artikel Sex, Drugs and Rock’n Roll. Die Kunst der Edo-Zeit.

Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass diese gesellschaftlichen Umbrüche auch in Punkto Kunst und Kultur einen erheblichen Wandel mit sich brachten. Vereinfacht gesprochen vollzog sich dieser von einer überwiegen religiös geprägten Kultur, von Zen und Kriegerethik zu einer bürgerlich-städtischen Kultur, hin zu Yoshiwara und einem vom Ukiyo (dem Frönen der vergänglichen Genüsse) geprägten Lebensgefühl. Die Welt des Theaters verdeutlicht den gleichen Trend – vom vergeistigen und ritualisierten Nô-Theater hin zur gleißenden und glamourösen Kabuki-Welt.

Ukiyo – die Vergnügungskultur der Edo-Zeit

Die gesamte Edo-Zeit als „reinstes Vergnügen“ darzustellen, ist keinesfalls mein Anliegen. Dies entspräche auch nicht den historischen Fakten. Die Ausführungen über die Edo-Zeit verdeutlichen aber doch, dass das Vergnügen nun wieder erheblichen Raum einnahm – endlich. Nur um eine klitzekleine Bedingung kam insbesondere im Japan jener Tage niemand herum: kein Vergnügen ohne Geld. Der Erwerb von luxuriösen Gütern, der Einlass in die zahlreichen Etablissements der Vergnügungsviertel, das Theater – all das erforderte reichlich Geld. Um der wahren Popularität der Kabuki-Schauspieler auf die Spur zu kommen, bedarf es daher eines Blickes in die „Welt des Geldes“ oder sagen wir einfach in die käufliche Welt.   

Realer Wohlstand und Dolce Vita in Edo? 

An dieser Stelle lohnt es sich nochmals explizit in das Leben und auch das Lebensgefühl in der Stadt Edo einzutauchen. Denn Edo war bereits im 17. Jahrhundert, verglichen mit Osaka oder Kyoto, eine wahrlich materialistische Stadt. Zwar ereignete sich das materiell illustre Treiben zu einem großen Teil im Verborgenen, oder zumindest jenseits der Augen des Shôguns (Antiluxusgesetze, Repression und Bestrafung konnten für nichtadelige Bürger erhebliche Konsequenzen haben). Doch am Ende muss man es einfach klar benennen. Sowohl der Adel als auch die nichtadeligen Bürger Edos genossen ihr Geld: Luxus, Eleganz, Handwerkskunst, Schmuck, Möbel, teures Papier und vieles mehr. Der Wohlstand war real. Man besaß. Also alles paletti? Dolce Vita in Edo?

Nicht ganz. Natürlich lebten auch in Edo viele Menschen am Existenzminimum und litten unter den Härten der Stadt. Zudem hatte das Leben in Edo selbst für die Wohlhabendsten noch reichlich Härten parat. Samurai hatten noch immer das Recht, eine rangniedere Person zu enthaupten, sollte diese ihm nicht genügend Respekt entgegenbringen. Das Shôgunat konnte Bürger mit fadenscheinigen Gründen enteignen und aus ihren Häusern vertreiben. Naturkatastrophen und Feuer vernichteten in regelmäßigen Abständen die Lebensgrundlage der Menschen.  

Ergo: man lebte im Hier und Jetzt und man lebte in vollen Zügen. Und was bot sich bei dieser Lebenseinstellung mehr an, als ein Besuch im Vergnügungsviertel.    

Yoshiwara –  die fließende Welt

1617 wurde in Edo das erste offiziell lizenzierte Freuden- oder Vergnügungsviertel zugelassen – „Yoshiwara“. Was es dort gab? Unterhaltung sowie sexuelle Dienstleistungen in allen Preisklassen. Das Spektrum reichte vom Straßenstrich über billige Etablissements und Amüsierbetriebe bis hin zu Teehäusern, in welchen Treffen mit hochrangigen, in Tanz und Konversation geübten Kurtisanen arrangiert wurden. Kurtisanen genossen Anerkennung und Prestige im alten Japan. Sie galten als glamouröse Stars, zumindest die hochrangigen Kurtisanen, und… wurden sogar wegen ihre Werte und Tugend bewundert. Aus Erzählungen und auch aus Kabuki-Stücken war abzuleiten, dass es wohl einige Kurtisanen gegeben hatte, die sich verkauften, um Geld für ihre verarmten Ehemänner zu verdienen und somit deren Ehre zu retten. Aufgrund heroischer Geschichten dieser Art genossen Kurtisanen besondere Verehrung. Westliche Überlegungen zu Moral und Sitte greifen bei diesen Zusammenhängen zu kurz.

In den Teehäusern fand auch die sonstige gehobene Unterhaltung, etwa durch Geishas mit Tanz, Gesang, Duftzeremonie und Konversation statt. Teehäuser in Yoshiwara waren bei Leibe eine Welt für sich, voller Moden und Eleganz, Etikette und natürlich mal wieder von größtem Luxus. Der Besuch einer Geisha oder Kurtisane – ein kleines Vermögen wert. Yoshiwara war aber auch der Ort, an dem sich Literaten, Dichterzirkel und Künstler trafen. Auch die Boheme zog es nach Yoshiwara, natürlich nur, um ihren intellektuellen Vergnügungen nachzugehen… und man besuchte das Kabuki-Theater.

Yoshiwara war demnach der Ort, an dem man nichts Anderes tat, als die flüchtigen Freuden und den schönen Schein des Lebens zu genießen, die Schönheit ihrer Akteure und deren Verführungskunst.  Wir sprechen von Koketterie, Anziehung und Zurückweisung, von Luxus und Lebenskunst. Man stürzte sich in die Welt der intensiven Momente, ohne nachzudenken, nur um sich mitreißen zu lassen vom Fluss der Vergänglichkeit. Am Ende war Yoshiwara wie eine schillernde Seifenblase, ein Spiegel der eigenen Begierden, die im nächsten Moment schon wieder zerplatzt. Das alles klingt sicher spannend, aber auch wahrlich nach dem Gegenentwurf zum „Japan der Achtsamkeit“.

Und wie passt das zu den Antiluxusgesetzen und den gesellschaftlichen Regeln des Shôgunats? Natürlich auch nicht. Doch Yoshiwara galt als absolut künstliche Welt, die nichts mit der wahren Realität der Menschen zu tun hatte.  Auf diese Weise tolerierte das Shôgunat das offensichtliche Übel, zumal die überwiegend männliche Bevölkerung Edos dringend ein „Ventil“ brauchte. Hier ließ man die Menschen gewähren, zumindest in einem gewissen Maß.

Das „Generalventil“, weil für Männer wie auch für Frauen, für Adelige wie für Bürger, für einfach jeden, der sich ein Ticket leisten konnte, war das Kabuki-Theater. 

Die Anfänge des Kabuki-Theaters

Der Ursprung des Kabuki-Theaters geht laut Literatur auf die Schreinjungfer (junge Frauen, die in Schreinen arbeiteten oder den Priestern assistierten) namens Okuni zurück. Okuni vom Izumo Schrein schien eine besondere Begabung zu haben: das Tanzen. Um 1603 soll es dann soweit gewesen sein, dass Okuni ihre Begabung nicht mehr nur für den Schrein einsetzte, sondern eine eigene Truppe ins Leben rief, mit der sie Tanzaufführungen am Flussbett des Kamo-Flusses (Kyoto) aufführte. Den ursprünglich religiösen Tanz nembutsu odori würzte Okuni mit wilden, aufreizenden Elementen – und erregte so erhebliche Aufmerksamkeit. Ihre Aufführungen wurden bald als kabuki odori bezeichnet – ungewöhnlicher oder schockierender Tanz – und waren wohl der absolute Renner. Der Erfolg der Truppe ging aber auch darauf zurück, dass sie nur aus jungen Frauen bestand, die überwiegend Prostituierte waren oder zumindest eine gewisse Nähe zum Vergnügungsviertel hatten. Bei ihren Aufführungen brachen Tumulte los, Skandale folgten, weil Männer, selbst Samurai, um die Gunst und auch um die Dienste der Tänzerinnen rangen. Seit diesen Tagen war das Kabuki-Theater mit der Welt der Vergnügungsviertel verknüpft, oder sagen wir es deutlicher, mit der Prostitution. Um diesem Hype Herr zu werden, erließ die Regierung 1629 ein Edikt, das Frauenkabuki zu verbieten. In der Folge übernahmen junge Männer und Buben die Tänze, auch die weiblichen Rollen, allerdings mit den gleichen Effekten und Skandalen. Seinerzeit waren gleichgeschlechtliche Vergnügungen noch ganz normal. Also wurde 1653 auch das Jungen-Kabuki verboten. Von da ab spielten nur mehr erwachsene Männer im Kabuki-Theater. So wurde das Ganze zu einer „ernstzunehmenden“ Theaterform.  

Mit dem Ruf der Kabuki-Schauspieler, auch dem der erwachsenen Männer, stand es dennoch nicht zum Besten. Seit die ersten „Kabuki“-Aufführungen am Flussufer des Kamo in Kyoto stattfanden, dem Ort, wo einst die Outcasts lebten, die Kriminellen, die sozial Ausgestoßenen, schlicht die Unerwünschten, waren Kabuki-Schauspieler stigmatisiert. Und dieses Stigma hielt lange an. Man nannte sie kawara-kojiki, die Bettler vom Flussufer (beggars from the riverbed). Kabuki-Schauspieler gehörten auch nicht dem ständischen System an. Sie zählten zur geächteten Klasse der Untermenschen, wie bei Prostituierten üblich. Während der Edo-Zeit war es sogar ein Verbrechen, wenn sie sich einem Samurai auch nur näherten. Tatsächlich konnte in solch einer Situation sogar der Tod auf sie warten.

Viele Kabuki-Schauspieler der Edo-Zeit, auch die erwachsenen Männer, folgten allerdings in der Tat ihrem Ruf in die Prostitution. Sie hatten ja auch die allerbeste Bühne, die man sich für dieses Gewerbe vorstellen kann. Zahlreiche Farbholzschnitte aus der Edo-Zeit (die Bilder der fließenden Welt), dokumentieren diese Verbindung. Sie zeigen etwa Teehäuser oder andere Etablissements, wo sich Schauspieler, deren Gönner und auch Prostituierte trafen. Heute würde man dies keinem Kabuki-Schauspieler mehr unterstellen. Das Kabuki-Theater hat sich wirklich zu einer ernstzunehmenden Theaterform entwickelt. Es wurde 2005 in die UNESCO-Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen.  

Historisch betrachtet muss an dieser Stelle aber auch Erwähnung finden, dass das Kabuki-Theater im Grunde eine Ableitung oder ein direkter Nachfahre des weitaus älteren Nô-Theaters (hatte seine Hochphase im 14. und 15. Jahrhundert) ist, auch wenn diese beiden Theaterformen in ihrer Art und Weise gerne als völlig gegensätzliche Ereignisse beschrieben werden. Thematisch wurden im Nô-Theater zwar auch diverse Dramen mit unterschiedlichsten menschlichen Tragödien zum Besten gegeben. Im Wesentlichen handelte es sich aber um Inhalte aus japanischer und chinesischer Mythologie und Literatur sowie um religiöse und vom Zen-Buddhismus geprägte Themen. Das Nô-Theater kann auch als klassisches lyrisches Drama bezeichnet werden, das in einer höchst poetischen Sprache vorgetragen wird. Hinzu kommt, dass dieses sehr formelle Theater ursprünglich nur von Samurai gespielt und besucht wurde. Nur sehr selten durften auch nichtadelige Bürgern in öffentlichen Aufführungen eine Nô-Darbietung besuchen. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem Nô-Theater und dem Kabuki, etwa in der Form der Bühne, bei den Kostümen, in der Musik oder dem Onnagata-Prinzip (Männer spielen auch die weiblichen Rollen).

Bei aller Gemeinsamkeit, die beiden Theaterformen bleiben natürlich dennoch in ihren klar definierten Schubladen: das Kabuki-Theater gilt als vulgär, das Nô als verfeinert. Fairerweise heißt es aber auch, dass das Kabuki-Theater die Schätze des Nô-Theaters für die einfachen Leute, also alle nichtadeligen Bürger, erst erfahrbar gemacht habe.  

Faszination Kabuki-Schauspieler – was steckt denn nun hinter all dem Starkult?

Kabuki-Schauspieler zählten während der Edo-Zeit neben Geishas, Kurtisanen und Sumoringern zu den Stars ihrer Zeit. Das Publikum liebte sie und dafür gibt es unzählige Gründe. Es soll im Folgenden aber auch um die Frage gehen, wer sie zu Stars machte. Wer war dieses „Kabuki-Publikum“ der Edo-Zeit?

Die Inhalte des Kabuki-Theaters

Doch bleiben wir zunächst bei den verehrten Bühnenhelden. Um den Zauber der Kabuki Schauspielers zu begreifen, möchte ich gerne mit der Frage beginnen, was sie denn eigentlich zum Besten gab. Was wurde also gespielt im Kabuki-Theater?

Was die Inhalte der Kabuki-Stücke betrifft, gibt es heute interessanterweise einen weitverbreiteten Konsens. Westliche Besucher attestieren gerne, dass die Story im Kabuki Theater vollkommen egal ist. Das Kabuki sei ein faszinierendes Spektakel, aber eines, bei dem die Handlung nicht unbedingt im Vordergrund steht. Zumindest mache die Handlung oft keinen Sinn oder sei im besten Sinne des Wortes seicht. Aber auch Japaner kommen zu dem Ergebnis, dass die Stories Unsinn sind. Ich lasse das gerne erst einmal so stehen. Einige japanische Bekannte haben mir aber doch gestanden, dass sie diese unsinnigen Geschichten dennoch lieben. Und ja, die Betonung liegt auf Geschichten. Ob nun gehaltvoll oder nicht, am Ende werden im Kabuki-Theater eben doch Geschichten erzählt – ein nicht zu vernachlässigender Aspekt – wie in jedem Theater.

Die Einschätzung, dass die Handlung im Kabuki seicht oder gar unwichtig sei, ist wohl dem geschuldet, dass viele Stücke tatsächlich belanglose Melodramen sind, Geschichten über Ausschweifungen in Yoshiwara, Geschichten über verfeindete Klans, Mord, sexuelle Gewalt, Erpressung, Laster und Verbrechen. Mord spielte im Kabuki sogar eine große Rolle, zumindest seit Beginn des 18. Jahrhunderts. Auch im Nô-Theater wurde Gewalt angedeutet, im Kabuki-Theater wurde sie aber frischfrei auf der Bühne gezeigt. Im Gegenzug dazu gab es aber natürlich auch die große Liebe im Angebot: eine poetische Sprache, subtile Erotik und reichlich verbotene Liebe – die Stoffe, die das Publikum zu Tränen zu rührten.  

Wir sprechen als von großer Liebe, großem Drama, Belanglosem und Gewalt als den Paradethemen, die die Menschen frenetische bejubelten. Das ist in der Tat ziemlich banales Zeug. Heute würde man sagen, nicht besser als das Leben der Geissens mit einem Schuss Drama und Niedertracht. Daneben gab es im Theater der Edo-Zeit aber auch Stoffe von historischer Natur. Sie bedienten die klassischen Themen, wie die Zerrissenheit zwischen Pflicht und Liebe oder die Themen Ehre und Rache. Selbst wenn sich diese Stoffe auf die moralischen Grundfeste der Gesellschaft beriefen, waren sie noch immer mit reichlich Liebe, Mord und Totschlag gewürzt. Somit wurde das, was man früher als Klatsch und private Anekdoten abgetan hätte, im Kabuki-Theater geadelt, indem es gleichwertig mit historischen Stoffen zur Aufführung kam.

Für reichlich Handlungs-Konfusion sorgt aber auch, dass Kabuki-Aufführungen in der Regel tagesfüllende Veranstaltungen sind. Eine durchgehende Handlung ist dabei aber nicht zu erwarten. Vielmehr werden Akte von unterschiedlichen Stücken und Tänzen regelrecht zusammengewürfelt. Ein logischer Handlungsstrang ist das natürlich nicht.  

Kabuki Super Stars

To be contuned.

Interessiert am Thema, dann könnte vorab der Beitrag Sex, Drugs and Rock’n Roll. Japanische Kunst der Edo-Zeit etwas für Sie sein.

Quellen: The Kabuki Handbook, Aubrey S. und Giovanna M. Halford, Charles E. Tuttle Co. Vermont & Tokyo 1956 / Lost Japan. Last Glimpse of Beautiful Japan, Alex Kerr, Penguin Books, UK 1993 / NHK-World Reihe Kabuki-Kool /