Um es ganz pragmatisch und einfach vorneweg zu nehmen. Dieses Buch ist wunderbar. Ich kann Water, Wood & Wild Things nur jedem wärmstens empfehlen. Am liebsten würde ich auch gar nicht mehr dazu sagen, als „bitte einfach lesen! Lesen und genießen.“ Aber das wird der Sache natürlich auch nicht gerecht. Also worum geht’s?

Kurz gesagt, Hannah Kirshner schreibt über das Leben und die Traditionen in einer Kleinstadt tief in den Bergen Japans: über Yamanaka. Das klingt erst einmal nicht besonders spannend. Ist es aber doch, denn sie sieht, was vielen gar nicht auffallen würde, weil sie eine hervorragende Beobachterin ist. Außerdem hat sie in ihren Texten einen sehr nahbaren und wirklich persönlichen Stil gefunden, in dem sie über all die wunderbaren und zum Teil auch kuriosen Situationen schreibt, die sie in Yamanaka erlebt. Und kurios ist schon alleine ihr Auftauchen in Yamanaka, wo mit „nicht-japanischen“ Gästen eher selten gerechnet wird.

Hannah Kirshner und Yamanaka – in den Bergen

Hannah Kirshner wuchs in der kleinen Stadt North Bend in einer ländlichen Region am Rande von Seattle auf. Nach ihrem Studium der Malerei und einer Ausbildung als Bartender verschlug es sie – natürlich – nach Yamanaka.

Yamanaka bedeutet „in den Bergen“. Die Stadt (weniger als 8.000 Menschen leben in und um Yamanaka) liegt tief in den Bergen der Präfektur Ishikawa, umgeben von Nebel, Bäumen, Moos und Farn. Die Region gilt als ura-Nihon, die „Rückseite Japans“. So wie es Hannah beschreibt, waren die Menschen hier etwas langsamer darin, ihre Traditionen sowie die alte Art zu leben, aufzugeben. Handwerker, Künstler und Landwirte führten jahrhundertealte Traditionen einfach fort, vom Holzhandwerk bis hin zum traditionellen Anbau von Reis und Gemüse. Heute ist Yamanaka gerade wegen seines Festhaltens an den einstigen Traditionen so ein besonderer Ort, voller kleiner und großer Mysterien.

Warum es aber ausgerechnet Yamanaka sein musste? Ich schätze, auch wenn es absolut albern klingt, dass sich hier Zufall und Schicksal die Hand gegeben haben. Tatsächlich waren es verschlungene Pfade, die sie in die winzige Sake-Bar Engawa am Rande von Yamanaka verschlugen. Nur kam sie nicht als Gast, sondern um dort für ein paar Monate ein Praktikum zu machen. Für den ein oder anderen mag schon alleine das nach einem Abenteuer klingen. Doch Hannah Kirshner blieb – sogar mehrere Jahre – um das Leben in der Region und in dieser Stadt aufzusaugen und um über ihre Erlebnisse das Buch Water, Wood & Wild Things zu schreiben.

© Hannah Kirshner

Water, Wood, Wild Things und Cultivation

Vier übergeordneten Kapitel stecken den Rahmen ab, worum es in diesem Buch geht: Water, Wood, Wild Things und Cultivation. Damit ist eines klar. Um Geschichten aus dem fanzy Nachtleben Tokyos geht es hier nicht.

Das ländliche Japan hat seine ganz eigenen Themen. Die reichen von wilden Beeren bis zu wilden Bären. Entsprechend sind auch Hannahs Erlebnisse nicht ganz „alltäglich“. Natürlich schreibt sie gleich im ersten Kapitel von ihrem Ankommen in der Sake-Bar, von ihrer Rolle als amerikanische Exotin, von den illustren Gästen und von der überirdischen Leidenschaft des Barbesitzers, der für sein kleines Sake-Universum mehr als nur lebt.

In einem anderen Kapitel schreibt sie darüber, wie sie als kurabito, als aktiv brauende Mitarbeiterin, in der lokalen Sake-Brauerei tätig ist oder welche Rolle das heiße Bad (Onsen) für die Gemeinschaft einer kleinen Stadt wie Yamanaka wirklich hat. Sie erzählt von Holz und Sträuchern und wie Handwerker und Künstler mit ihren Händen formen, was die Natur ihnen als Rohstoff schenkt. So entstehen handgeschöpftes Papier (washi), exklusive Holzschalen, Sake-Becher, Lackwaren oder Wagatabon (traditionelle Holztrays aus der Region). Hannah ist bei all diesen kreativen Entstehungsprozessen mit dabei, da es ihr gelingt, die Meister ihres Faches zu überzeugen, sie als Lehrling oder Assistentin zu akzeptieren. Nach und nach lernt sie unterschiedliche Werkstätten kennen und mit ihren Meistern vor allen Dingen unterschiedliche Charaktere.    

Doch damit nicht genug. Am Ende jagt sie mit den einheimischen Jägern Bären und fängt mit Netzen wilde Enten. Letzteres ist ganz klar eine Männerdomäne, denn der Netzfang ist eine alte Methode, die von den einstigen Samurai überliefert wurde. Außerdem baut sie ihren eigenen Reis an, pflanzt in traditioneller Weise Gemüse und, und, und…. In jedem Kapitel ein eigenes spannendes Thema. Und – Hannah kocht: Gerichte aus Bärenfleisch, Wildpflanzen oder dem Gemüse aus dem eigenen Garten. Entsprechend hat eine Handvoll sehr traditioneller japanischer Rezepte seinen Weg in das Buch gefunden, etwa Hunter‘s Stew, Pickled Wasabi Greens oder Saké Kasu Ice Cream.

Eines meiner Lieblingskapitel ist Chrysanthemum Water – ein intimes Kapitel über die Bedeutung und das Treiben im örtliche Onsen, dem öffentlichen Bad gespeist aus natürlichen heißen Quellen. Hannah erzählt hier auch von einem Ryokan (Hotel im klassisch japanischen Sinne) namens Kayôtei. Die Philosophie des Inhabers sei, dem Gast ein Erlebnis zu bieten, das er nur in Yamanaka genießen kann. Er serviert ausschließlich lokale, hochwertige Produkte, Speisen und Getränke werden aus den kunstfertigsten Schalen und Bechern von lokalen Handwerkern serviert, die örtliche Papiermacherin liefert washi für die Lampen, der hauseigene Onsen ist exquisit. Kayôtei, so kommt es mir vor, ist ein respektables Gesamtkunstwerk.  

Tiefen Einblicke nach Japan durch Water, Wood & Wild Things

Ich muss zugeben, am großartigsten ist das Buch wohl für jene, die bereits eine gewisse Zeit in Japan verbracht haben. Denn um den doofen Begriff nun doch zu verwenden, Hannah beschreibt „dicht“ und akribisch, so dass man Japan vor seinem inneren Auge sieht, es riecht, schmeckt und auf der Haut spürt. Wer also schon mal in Japan war, hat vermutlich das Gefühl, im Hier und Jetzt von Yamanaka wirklich dabei zu sein, sei es in den wolkenverhangenen Bergen oder im dampfenden Onsen. Gleichzeitig sind historische und fachliche Fakten genau recherchiert.

In jedem Fall knüpft Hannah mit Water, Wood & Wild Things an eine gewisse Sehnsucht an; nach dem „Land der Traditionen“ und der Werte aus vergangenen Tagen, nach einem Land geprägt von Hingabe und Leidenschaft, sei in der Handwerkskunst, beim Servieren von Sake oder beim Ernten der Rüben. Irgendwie schreibt Hannah über Ideale, die wir heute mehr und mehr vermissen – sogar schmerzlich vermissen – in einer kurzlebigen Zeit.

Über die Schönheit Japans in Water, Wood & Wild Things

Warum mir dieses Buch nun aber so besonders gut gefällt? Weil Hannah auf ihre ganz eigene Weise von Japans Schönheit schreibt. Und ich habe es in diesem Blog schon mehrfach erwähnt. Japans Schönheit ist in viele Fällen nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Städte, insbesondere Kleinstädte in ländlichen Regionen, sind für das westliche Auge oft hässlich. Ich spreche von klapprig wirkenden Häusern und Gebäuden aus billigen Materialien. Stromkabel liegen wie lästige Spinnweben über den Straßen. Zumindest meine Augen gewöhnen sich nie daran.

Zu Yamanaka muss man allerdings sagen, dass es sich sogar um einen relativ hübschen kleinen Ort handelt, da er wegen seines Onsens auch von innerjapanischem Tourismus frequentiert wird. Die Gesichtszüge aus der Edo-Zeit sind noch zu erkennen, obwohl es auch hier ganz klar eine schäbige Seite gibt, geprägt von 60er-Jahre Bauten die langsam vor sich hin rotten. Doch abgesehen von Yamanaka selbst geht es hier um Schönheit in ganz unterschiedlichen Dimensionen.

Da ist zunächst einmal die Schönheit der Natur – der sprießenden und vergehenden Gewächse, die sie zu Fuß, auf dem Rad oder mit botanisch bewanderten Einheimischen erkundet. Da sind die nebelverhangenen Berge, Vorhänge von Bergketten und noch mehr Berge. Da ist der von ihr selbst ausgebrachte und geerntete Reis, der sie in gewisser Weise eins mit dem Land werden lässt. Dazu gehört aber auch die Schönheit der Jagd – auch wenn der ein oder andere mit diesem Thema keine Schönheit assoziieren mag. Hinzu kommt die Schönheit der Zeremonien und der Rituale, sei es im Tee oder im Tanz, aber auch die Schönheit der Leidenschaft, die Menschen bereit sind, in ihr tun und wirken zu investieren.

Hier nur ein kurzer Textauszug aus dem Kapitel A Saké Evangelist, um zu verdeutlichen, was ich meine. Shimoki ist der Name des Besitzers der winzigen Sake-Bar, in der Hannah mitarbeitet.

In early December, when we’ve been working together for a month, Shimoki invites me to join him for a daily ritual before opening the bar. I follow him outside up the steep mossy steps to Hasebe Shrine. As we climb, he instructs me to observe the plants, the temperature, and the feeling of the season so we can determine what kind of sake the day calls for. He prays and then tenderly brushes away some fallen leaves and places several coins on the shrine, asking the spirits to bring him good business.

Auch die Leidenschaft und Präzision, mit der in Yamanaka handwerkliche Gegenstände geschaffen werden, etwa Holzschalen, Lackschalen oder Sake-Becher, ist umwerfen. Hinzu kommt die Schönheit des traditionellen Produzierens, nehmen wir das bereits erwähnte händische Schöpfen von Papier (washi) oder den aufwendigen und zutiefst traditionellen Prozess des Brauens von Sake.

Bei all dem geht es aber nicht nur um Schönheit im rein sichtbaren Sinne, als um eine gewisse Form von innerer Anmut, die die Natur mit den Menschen und deren Handelt verbindet. Vielleicht ist es ja genau diese Schönheit im „Leben“, die wir in unserem modernen Alltag vermissen.

Aber Vorsicht. Hannah Kirshner erzählt in diesem Buch von einem Japan, das selbst viele Japaner nicht mehr kennen. Auch in Japan schwinden die Traditionen und es kostet viel Mühe und Engagement von Einzelnen, um diese für die Nachwelt zu erhalten. Water, Wood & Wild Things ist nicht gleich Japan. Und trotzdem, trotz all dem Wohlwollen, das Hannah Japan entgegenbringt, ist dieses Buch kein romantisierender oder nostalgischer Kitsch. Dazu beschreibt sie die Charaktere, die sie in Yamanaka getroffen hat zu ehrlich, dazu beschreibt sie das Leben in Yamanaka zu pragmatisch und zu wenig glamourös. Es fühlt sich eher so an, als berichtet sie über ihren ganz speziellen Schatz, den sie in Yamanaka gefunden hat, einen den sie uns eben nicht vorenthalten will. Many thanks!

Und hier noch der Link zu Hannahs Website.