Halten wir es doch einfach einmal so wie Kaiser Hadrian. Der sagte einst: Ich fühle mich verantwortlich für die Schönheit dieser Welt


An dieser Stelle muss ich eines gestehen – dass ich für diese Art von Zitaten wirklich empfänglich bin. Ich muss gestehen, sie fasziniere mich. Sie veranlassen mich dazu, gedanklich einfach mal auf Reisen zu gehen. Aber warum auch nicht – wie wäre es also mit ein paar Gedankenexperimenten zum Thema Schönheit?

Dieser Essay beschäftigt sich mit der Frage, in wieweit die Ästhetik eine Triebfeder für moralisches Handeln sein kann. Natürlich blicken wir auch auf Japan sowie auf einige interessante Biographien. 

Hadrian schien sich seiner Sache ja recht sicher gewesen zu sein. Er fühlte sich verantwortlich für die Schönheit dieser Welt. Kling super – aber weshalb? Auch ich frage mich immer mal wieder, warum ich mich eigentlich so regelmäßig und gerne mit den Themen Ästhetik und Schönheit beschäftige. Ist „das Schöne“ denn wirklich so wichtig? Sicher, der Mensch strebte schon immer nach Schönheit. Aber warum? Und was bringt uns der ganze Zauber eigentlich?

Ästhetik – Sinn oder Unsinn?

Wer sich bereits intensiver mit dem Begriff der Schönheit oder dem Wert des Schönen befasst hat, dem werde ich an dieser Stelle vermutlich nichts Neues erzählen. Das Streben nach Schönheit oder danach, etwas Schönes zu erschaffen, scheint den Menschen universell zu eigen zu sein. Es durchdringt die gesamte Menschheitsgeschichte und verbindet alle Kulturen. Damit meine ich aber nicht nur das Streben nach der eigenen Schönheit, sondern das Streben nach Schönem auch darüber hinaus. Das Streben nach Schönheit scheint somit ein „urmenschlicher“ Drang zu sein (ob und in welcher Form Tiere nach Schönheit streben, da muss ich leider passen). Warum? Für mich klingt zunächst einmal die Vermutung plausibel, die auch Richard David Precht äußerte: dass es sich im Grunde um den Drang der Menschen handle, etwas zu schaffen, das größer ist als sie selbst.  

Jo, La Belle Irlandaise, Gustave Courbet CC0 Public Domain Met Open Access

Nehmen wir ein klassisches, wenngleich auch etwas abgedroschenes Beispiel: das antike Griechenland. Lesen wir die Text der Antike, so wird insbesondere den Griechen ein permanentes Streben nach Schönheit unterstellt, das Streben danach, etwas zu schaffen, das ultimativ schön ist und das Normalmenschliche übersteigt. Die Philosophen des antiken Griechenlands pflegten in diesem Zusammenhang gar den „ästhetischen Diskurs“ anhand dessen sie eine Vielzahl an Lebensbereichen und Aspekten diskutierten und kultivierten. Architektur, Skulptur, Proportion und Perspektive, Geometrie, Balance oder Harmonie sind nur einige Beispiele für diese ästhetische Auseinandersetzung. Die Denker des antiken Griechenlands schufen ein regelrecht mathematisch berechnetes Ideal von Schönheit, dem man sich im Grunde immer nur annähern konnte.

Oder der bereits zitierte Kaiser Hadrian (76 -138). Auch er verschrieb sich in besonderer Weise der Schönheit. Er hatte seine Sichtweise sehr prägnante auf den Punkt gebracht. Er fühle sich dafür verantwortlich, die Schönheit der Welt zu wahren und zu mehren. Er fühle sich schlicht und einfach verantwortlich für die Schönheit dieser Welt.

Ein Beispiel für eine Kultur, in der die Ästhetik so tief verankert scheint wie die Luft zum Atmen, ist Japan. Japanreisenden fällt meist schon nach wenigen Tagen auf, dass in beinahe jedem Lebensbereich Ästhetik oder zumindest eine ausgeprägte ästhetische Haltung auszumachen ist, sei es in der Kunst, bei der Gartengestaltung, im Sport, in der Verpackung von Lebensmitteln, in der Zubereitung des Tees oder gar im Essen selbst. Ein Bekannter von mir hatte dies einmal beinahe vorwurfsvoll zum Ausdruck gebracht: „Es ist doch wirklich komisch, dass in Japan immer alles so schön ist. Ich hab dort Essen gesehen, das einfach zu schön zum Essen ist.“ Die Präsenz von Ästhetik im Alltag, im Detail, in der Form, im Spiel mit den Materialien, scheint Japan von anderen Ländern wahrnehmbar zu unterscheiden. Vielleicht lohnt es daher gerade in Japan zu fragen: Womit geht dieses Streben nach Ästhetik einher? WAS HABEN DIE DENN EIGENTLICH DAVON?

Vielleicht ist die Frage nach dem „Nutzen oder Mehrwert von Schönheit“ zunächst eine ungewöhnliche Frage. Und dennoch, als Mensch stets nach Schönheit oder Ästhetik zu streben, ist am Ende doch immer mit Mühen verbunden. Also wozu? Geht es neben der ganz praktischen Freude etwa um den inneren Frieden, Selbsterkenntnis, befriedigte Eitelkeit oder tatsächlich um das Schaffen von etwas, das größer ist als man selbst?

Ästhetik, Sinn, Moral und Menschlichkeit

Bleiben wir zunächst in der japanischen Gedankenwelt, in der die Ästhetik als grundlegendes Element im Leben selbstverständlich ist. Ästhetik ist und war allgegenwärtig und sogar so selbstverständlich, dass es den Begriff „Ästhetik“ historisch betrachtet nicht einmal gab. Und doch nehmen wir im ganzen Land ästhetische Meisterleistungen wahr, in der Kunst, im nach Perfektion strebenden Handwerk und einfach im Leben selbst. Der ästhetisch bedingte Aufwand scheint somit in Japan ein ganz normaler Bestandteil des Lebens zu sein.

In diesem Kontext gilt es sich stets in Erinnerung zu rufen, dass die nach westlichem Denken gängige Geleichung, Ästhetik = die Lehre vom visuell wahrnehmbaren Schönen, in Japan einfach „zu kurz“ greift. Ästhetik ist in Japan sicherlich kein rein visueller Moment. Sie ist in Japan Ausdruck und Ergebnis einer Vielzahl von Aspekten, von denen ich hier nur einige wenige darstellen kann.

Natur – das ewige ästhetische Element in Japan

Zum einen war Schönheit historisch betrachtet immer ein Ausdruck von und für Natur, also eine positive Empfindung die auf die Natur oder alles Natürliche zutrifft. Richie: „Die Schönheit ist sowohl Ausdruck als auch Ergebnis eines Bewusstseins, das von einem sich hochgradig selbstreflektierenden Respekt für die Natur herrührt sowie von einer mit diesem Respekt einhergehenden Disziplin, die wiederum ein Grund dafür ist, dass die Künste in Japan nur selten beiläufig sind.“

Ästhetik und Moral in Japan

Betrachten wir die innere Haltung der Menschen zur Ästhetik, kann man sagen, dass die Ästhetik der Spiegel einer Geisteshaltung ist, die sich mit dem Wahren und Guten beschäftigt und diese Geisteshaltung demnach eine moralische und eine sinnstiftende Komponente hat. Das Wahre wie auch das Gute wird von einer moralischen Komponente gespeist, die durch Religion (Zen-Buddhismus, Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus) und Tradition in der Gesellschaft breit verankert ist. Die Schönheit im Wahren und Guten tritt besonders über die vom Zen-Buddhismus geprägten Weg-Künste (Kalligraphie, Blumenstecken, Bogenschießen etc.) hervor. Dabei folgt der Mensch einer vorgegebenen Weise des Praktizierens. Er macht nicht einfach irgendwas, also rein kreatives Tun. Nein, er folgt einem Ritual oder eben Weg (dô). Durch die intuitive Erfahrung des Praktizierens erlangst der Praktizierende nichts Geringeres als Erleuchtung. Nehmen wir das Beispiel Kalligraphie. Sobald diese an der Wand hängt, würden wir es im westlichen Kontext wohl als Kunstwerk bezeichnen, in seiner Art eben schön. Für den japanischen Betrachter ist die Kalligraphie der Ausdruck des Praktizierenden auf seinem Weg zur Erleuchtung, zur Erkenntnis der Schönheit alles Seienden in der das Wahre und das Gute vereint sind. Schönheit, Wahrheit und das Gute gehören folglich zusammen und bilden in Japan eine Einheit. Damit kennt Japan sowohl das Streben nach Schönheit als auch das intuitive Hervorbringen von Schönheit im praktizierenden Prozess.

Doch auch der Handwerker, der keine Wegkünste praktiziert sondern schlicht und einfach Gegenstände für den täglichen Gebrauch oder auch den dekorativen Gebrauch herstellt, legt größten Ethos in seine Kunst. Der Handwerker der seine Holzschale dreht legt in diese Schale sein ganzes Selbst sowie seine Erkenntnis von der „Schönheit alles Seienden“, auch wenn dies fürchterlich hochgestochen klingt. Auch dies zeigt, dass die Idee von Schönheit in Japan damit über das rein Visuelle oder sinnlich Wahrnehmbare weit hinausgeht. Es geht um das Wahrnehmen, das Fühlen und um das „Herz“, sowie den moralischen Verstand.

Um eines kommen wir in Japan in jedem Fall nicht herum – das Erschaffen von Schönem, ganz gleich, ob es sich um den Bau eines Teehauses oder das Zubereiten des Tees handelt, wird nach japanischen Maßstäben ohne Besinnung auf das Wahre und Gute nicht funktionieren. Das Streben nach dem Schönen zähmt den Menschen in seiner Welt. Und wer sich mit dem Schönen in der Welt beschäftigt, arbeitet im Idealfall an seiner Erleuchtung und an seinem besseren Selbst. Und eben dies sei jedem Menschen geboten – Zen! Die Ästhetik, sie ist folglich in Japan ein moralstiftendes, sinnstiftendes und somit auch die Gesellschaft regulierendes Element, das in allen Lebensbereichen zum Tragen kommt. DAS HABEN SIE ALSO DAVON. Die Ästhetik wird zum Schlüssel für eine bessere Welt. Mehr dazu in dem Artikel Japanische Ästhetik: Kunst aus Japan ist – einfach – schön.

Japan auch heute noch in Geschmacksfragen auf ein rein moralisches oder spirituelles Podest zu stellen, ist vermutlich übertrieben. Aber die Wurzeln für den Umgang mit Ästhetik liegen in Japan genau dort. In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch bemerkenswert, dass erst in der Moderne einige Künstler in Japan versuchten, mit diesem moralisierenden Ideal zu brechen, um unangepasste und sogar destruktive Momente in deren Verständnis von Ästhetik (künstlerischem Ausdruck) einzulassen. Aber diese Gedanken sind in Japan noch nicht sehr alt.

Ästhetik und Moral bei Kaiser Hadrian

Aber kommen wir an dieser Stelle zurück zu Kaiser Hadrian, der mich ja erst auf diese gedankliche Reise geschickt hat. Hadrian – auch er hatte den Aspekt der Schönheit mit einem moralischen Element verknüpft: Ich fühle mich verantwortlich für die Schönheit dieser Welt. Ich bin kein ausgewiesener Kenner von Hadrians Schriften. Doch es scheint tatsächlich so, dass die Schönheit ein großes Ideal für ihn gewesen ist. Natürlich wollte er seine Städte florieren sehen, doch nicht nur im Sinne der Prosperität, als auch im Sinne der Bildung, der Kultur, der Architektur, mit gepflegten Bauten, Gärten und Menschen. Zu lesen ist auch, dass Hadrian zahlreiche ausgedehnte Reisen durch sein Land unternahm, zum einen, um seine militärische Macht auszubauen, aber auch um die regionalen Besonderheiten von Land und Leuten kennenzulernen und diese entsprechend durch bauliche und gestalterische Maßnahmen zu unterstützen.

Anzunehmen ist aufgrund des Zitats, dass er dem Unterfangen, in der Welt nach Schönheit zu streben, nicht nur zum Zeitvertreib nachging, oder aus reiner persönlicher Sinneslust. Denn auch mit Hadrians Zitat geht eine moralische Komponente einher. Er nennt die Schönheit im gleichen Atemzug mit der Verantwortung, also der Verpflichtung angesichts dieses Themas Rede und Antwort zu stehen. Als autonom handelnder Mensch legt er sich die Pflicht auf, rechtschaffen zu handeln. Diese Verpflichtung wird gespeist aus seiner eigenen moralischen Instanz und wirkt gegenüber den Menschen und der ganzen Welt. Dies ist ein Ausdruck der eigenen inneren Haltung, eine universelle Moral die nicht nur auf sich gerichtet ist. Dies schließt aber nicht aus, dass Kaiser Hadrian die Grenzen seines Reiches und auch etwaige Aufstände mit Gewalt zu verteidigen und niederzuschlagen gewillt war. Und doch war die Ästhetik eine Leitlinie, die seine Politik nicht nur zähmte, sondern positiv beeinflusste. Sen no Rikyu hätte für Hadrians Verantwortungsgefühl sicherlich Zustimmung gefunden. Zwar ist dies ein etwas anderer Ansatz als in Japan. Doch auch hier kann man sagen, diese Haltung ist der Schlüssel zu einer besseren Welt. Und die Schönheit der Welt vermochte diese Haltung anzurühren.  

An dieser Stelle möchte ich nun eine kühne These in den Raum werfen. Die Schönheit – gut, sie ist berührend, sinnstiftend und erhellend. Aber eine zwingende Notwendigkeit, ohne die der Mensch nicht überleben kann ist sie vermutlich nicht. Der ein oder andere behauptet sogar, Ästhetik sei ihm völlig wurscht. Der ein oder andere… Und doch wage ich an dieser Stelle zu behaupten, dass der Wert der Schönheit, die Auseinandersetzung mit Ästhetik für viele Menschen nicht nur ein sinnstiftender, sondern ein handlungsstiftender Wert ist. Die Schönheit vermag für viele Menschen in essenziellen Fragen ein Schlüssel zu sein, oder sagen wir zumindest, ein Schlüsselloch.

Die Schönheit wird zum Schlüsselloch

Um aber ganz nach Hadrian die Schönheit der Welt zu wahren und zu mehren, um also zu handeln, gilt es diese zunächst zu erkennen. Erst mit der Erkenntnis entwickelt sich das sinnstiftende Moment. Doch nicht nur den Zeilen über die Ästhetik in Japan war zu entnehmen, dass diese Erkenntnis den ganzen Menschen fordert, auch das Gefühl, auch das intuitive Begreifen, die Demut, das Herz. Die Erkenntnis wird zum Schlüssel für moralisches Handeln, die Schönheit wird zum Schlüsselloch.

Zum ganzheitlichen Erkennen, oder sagen wir lieber Erfahren von Ästhetik lohnt wieder der Blick nach Japan. Nehmen wir eines der wichtigsten ästhetischen Konzepte Japans: Wabi-Sabi – die Schönheit des Natürlichen und natürlich gealterten. Wir sprechen dabei von der Schönheit der einfachen, verwitterten Holzhütte, die zur Teezeremonie genutzt wird und von der Schönheit der einfachen Teeschale, die rissig und vom Gebrauch gezeichnet ist, da sie nicht nur dem visuellen Genuss, als vielmehr dem Leben dient. Diese Art der tiefgreifenden ästhetischen Erkenntnis ist für mich einzigartig. Sie zähmt die Welt.

Und doch ist auch Japan nur ein Beispiel. Ich persönlich bin der tiefen Überzeugung, dass die sinnlich-moralische und sinnstiftende Komponente des Schönen für viele Menschen ein Aktivator ist, auch wenn sie es vielleicht anders ausdrücken würden. Zumindest sehe ich großes Potenzial in der treibenden Wirkung der Ästhetik, was die folgenden Beispiele zeigen.

Brunello Cucinelli und das Dorf Solomeo in Umbrien

Einer, der ganz explizit von sich behauptet, er fühle sich verantwortlich für die Schönheit der Welt, ganz wie Kaiser Hadrian, ist Brunello Cucinelli, der auch ein Kenner der großen philosophischen Schriften ist. Er hatte einst sein Vermögen mit der lokalen Produktion von bunten Kaschmirpullovern gemacht und ein Unternehmen aufgebaut, das noch heute sehr erfolgreich ist. Schon seit geraumer Zeit folge er seiner Überzeugung, und zwar, dass jeder die Möglichkeit hat, das, was die Natur ihm geschenkt hat, zu hüten, zu beschützen und vielleicht auch zu verbessern. In seinem Fall: Er sanierte das halb verfallene Dorf Solomeo (das Heimatdorf seiner Frau, wo auch an unterschiedlichen Orten der Firmensitz angesiedelt war) im umbrischen Hinterland und machte es zu einem liebenswerten Ort mit Gärten, Gastronomie, einer Schule und einem Theater.

Solomeo © Paolo-Gianfelice

Doch seine Bemühungen gingen über das Dorf hinaus. Er gestaltete auch gleich das gesamte Hügelland um Solomeo herum neu. Neben zahlreichen baulichen und strukturellen Projekten, die er förderte, ließ er hunderte von großen Bäumen und Sträuchern pflanzen und nun prägen Weinberge, Wiesen und Obstgärten das Land. In der Nachkriegszeit blickte man auf triste Industriehallen und trostlose, verwahrloste Felder. Ihm ging es darum, einen Lebensraum zu gestalten, in dem Menschen gut und im Einklang mit der Natur leben können. Ein Ort, der Kultur, Natur, Lebensqualität, und menschlichen Zusammenhalt verbindet. Ein Ort der Schönheit. Und ja, Solomeo und alles drum herum sind heute wirklich eine Freude für das Auge und für das Gemüt. Er selbst sieht sein Wirken als Tribut an die Würde des Menschen und auch als sichtbares Zeugnis seines Engagements für eine humanere Welt.

Puh – was für ein Gutmensch. Das gibt‘s doch nicht… Ich weiß, auch mir fällt es mitunter schwer, Industriellen wie Brunello Cuchinelli die unbedingt guten Absichten zu 100 % abzunehmen. Ganz so selbstlos wird sein Handeln schon nicht gewesen sein. Stellt sich in diesem Kontext nicht auch die Frage nach irgendeiner Art von Schlussrechnung ob der Unternehmer Cucinelli nun mehr von Natur, Land und Leuten profitiert hat oder umgekehrt?

Und überhaupt, wenn wir nun doch am skeptischen Grübeln sind – hat das Schöne nicht auch eine Kehrseite? Ist die Beschäftigung mit dem Schönen und das Streben danach nicht auch vielen Menschen suspekt, zumindest wenn es um ein übermäßiges Streben nach Schönem geht? Allzu oft fällt der Drang nach Ästhetik in einem Atemzug mit dem Luxus, der Oberflächlichkeit, oder der Moral zersetzenden Dekadenz. Ist die Schönheit nicht bloß ein Fliegenfänger, das Zugpferd der Eitelkeit?  

Und doch. Die Realität die Cucinelli in und um Solomeo geschaffen hat ist beeindruckend. Und sie geht auf sein Handeln zurück. Dabei sagt Cucinelli von sich selbst, dass er durchaus Kapitalist sei. Doch er strebe nach einem humanen Kapitalismus. Man müsse ein Gleichgewicht schaffen, zwischen Profit und dem Prinzip, immer auch etwas zurückzugeben.

Und er wird nicht müde zu betonen, wie sehr das Streben nach Schönheit ein Treiber seines Handelns ist. Den Respekt vor der Schönheit der Welt und vor den einfachen Dingen habe er bereits als Kind auf dem Bauernhof gelernt, auf dem er aufwuchs. Dieser Respekt nährt also sein Verantwortungsgefühl, nicht nur zu nehmen, sondern auch etwas zurückzugeben, niemand geringerem als der Welt? Nun ja, sagen wir es so: er hätte es ja auch sein lassen können. Hat er aber nicht. In und um Solomeo schuf er eine bessere Welt. Welche Faktoren ihn neben der Moral noch motiviert haben mögen, wird am Ende nur Cucinelli selbst beantworten können. Dennoch macht diese Geschichte für mich Sinn. Die Erkenntnis ob der Schönheit dieser Welt von Kindesbeinen an ließ ihn handeln. Die Schönheit wurde zum Schlüsselloch?

Sarah Marie Cummings und die Sakebrauerei Masuichi-Ichimura in Japan

Sarah Marie Cummings ist Amerikanerin. Sie war über Jahrzehnte die einzige ausländische Geschäftsführerin, die eine traditionelle Sake-Brauerei in Japan geleitet hat. Eigentlich war Sarah Marie Cummings nach Japan gekommen, um die Vorbereitungen für die Olympischen Winterspiele 1998 in Nagano zu unterstützen. Und – sie war auf der Suche – nach der Tiefe der japanischen Traditionen, nach der Schönheit, den Mysterien und der ureigenen Kraft des Landes. In den Städten vermochte sie all dies aber nicht zu finden.

Was sie suchte, fand sie in den ländlichen Regionen, z.B. rund um die kleine Stadt Obuse in der Präfektur Nagano. In Obuse stieß sie auch auf die Sake-Brauerei Masuichi-Ichimura, die kurz vor dem finanziellen Ruin stand und der Sarah Marie Cumming schließlich als Angestellte und später als Geschäftsführerin zu neuem Leben verhalf. Doch dies geschah nicht, indem alles so blieb wie es war. Um Schönheit und Traditionen zu erhalten, musste sie vieles ändern. Natürlich modernisierte sie – die vernachlässigte Brauerei – die Verkaufsräume der Brauerei und die Lokale, die dem Betrieb angeschlossen waren. Für dieses Vorhaben nahm sie sogar internationale Architekten in die Pflicht. Das Ergebnis: die Menschen interessierten sich wieder für „ihre Brauerei“ am Ort, die nach langer Zeit wieder zu einem Ort der Begegnung wurde. Die Restaurants der Brauerei servierten nun einfache aber lokale Speisen aus frischen lokalen Produkten. Eben die Klassiker der Region. In den Verkaufsräumen – neben Sake lokales Handwerk. Sarah Marie Cummings setzte auf lokale Schönheit und lokale Traditionen. Und sie meinte es wirklich ernst mit den Traditionen. Sie führte die alte Art des Brauens in Holzfässern wieder ein, eine vergessene Tradition, die in der Folge auch andere Brauereien wieder in Erwägung zogen.

Darüber hinaus kümmerte sich Cummings um die Region, um das zu erhalten, was viele Japaner im Zuge der fortschreitenden Modernisierung und des Pragmatismus anscheinend nicht mehr zu schätzen wussten. Die Rede ist von alten Lagerhäusern und alten Holzhäusern mit traditionellem Strohdach gedeckt. Diese Lager- und Bauernhäuser (Kominka) wurden über Jahrhunderte zu dem, was sie waren – Häuser mit Charakter. Und doch standen sie kurz vor dem Abbruch. Cummings ließ sie traditionell sanieren und schuf damit einen Mehrwert für den Ort und die Region, der bis heute Bestand hat. Denn viele kommen heute nach Obuse, um dieses „alte Japan“ zu sehen. Obuse und seine Umgebung sind einfach schön. Darüber hinaus rief Sarah Marie Cummings kulturelle Events ins Leben, Kunstymposien und regelmäßige kulturelle Abende. Sie half mit, die Region zu einem schönen und lebenswerten Ort zu machen.

Mir scheint, dass auch Sarah Marie Cummings sich verantwortlich fühlte, nicht nur für den finanziellen Erfolg der Brauerei, sondern für „das Land und dessen Schönheit“, die Schönheit einer ganz besonderen Welt, die immer weiter zu schwinden droht. Sie wollte die Region, deren kulturelle Kraft und deren Schönheit erhalten oder wie man in Japan leider häufig sagen muss, wiederherstellen. Ihr ging es darum, das Wahre und Gute, was Handwerker und Künstler vergangener Tage geschaffen hatten, zu wahren, um es nach eigenen Angaben den nächsten Generationen ans Herz zu legen. Für mich, ein Einsatz für eine bessere Welt.

Für ihre Leistungen wurde sie auch zur Nikkei Woman of the Year 2002 gekürt. Heute hat sie sich aus ihren offiziellen Ämtern in der Brauerei zurückgezogen.

Alex Kerr und der Chiiori Trust in Japan

Alex Kerr verliebte sich als junger Mann nach dem Studium in ein abgelegenes Tal auf der Insel Shikoku: Iya Valley. Mit seinen raren Ersparnissen kaufte er sich dort ein altes verlassenes Bauernhaus mit traditionellem Strohdach (Kominka) und sanierte es ganz langsam gemeinsam mit Nachbarn und Freunden. Dieses Haus nannte er Chiiori.

Jahre später gründete er den Chiiori-Trust. Diese Gesellschaft saniert, modernisiert und gestaltet alte japanische Häuser in ganz Japan neu, die dann wieder vermietet werden, jedoch nicht von Alex. Die non-profit-Organisation Chiiori-Trust arbeitet so an einem nachhaltigen Tourismus, der die Region wieder in seiner eigenen Kraft stärken soll. Der zentrale Gedanke seiner Tätigkeit: er will das schöne Japan erhalten, bevor es verloren geht, so wie auch Sarah Marie Cummings tat. Alex Kerrs bedeutendstes Werk, zumindest in meinen Augen, ist aber kein Haus, sondern das Buch Lost Japan aus dem Jahr 1993. Es ist ein 230 Seiten umfassender Aufschrei angesichts der Zerstörung von Natur, Eleganz und Schönheit in Japan. Er beweint ein Japan, das über Jahrhunderte gedieh und nun im Licht von Neonröhren, Leuchtreklame und modernem Pragmatismus zu ersaufen droht. Die Schönheit des Landes ist sein Motivator, ganz gleich ob er sich gerade mit japanischen Antiquitäten beschäftigt oder mit der Sanierung des nächsten Strohdachs.  

Federica Marcisio und ihr Weinanbaugebiet in der Emilia-Romagna

Wieder ein ganz anderes Beispiel liefert Federica, eine italienische Cousine meines Mannes. Sie plant, zusammen mit ihrem Mann, in ein brachliegendes Stück Land in der Nähe von Modena zu investieren, um dort, wie eh und je in dieser Region, Wein anzubauen. Sie wollen dort neue Reben pflanzen, dem Land wieder ein Gesicht geben und die schönen aber verfallenen landwirtschaftlichen Gebäude sanieren. Ihr Ziel – dieses aktuell ungenutzte Stück Land in möglichst traditioneller Art und Weise wieder zum Leben zu erwecken.

Federica spricht nur gebrochenes Englisch und ich kaum Italienisch. Dennoch hatte sie sofort verstanden, weshalb ich plötzlich mit Hadrian daherkam. Und sie konnte Hadrians Gedanken voll und ganz zustimmen. Ja, sie wisse genau was ich damit meine und eben dieses ästhetische Gefühl sei ein unglaublich starker Motivator. Natürlich solle das Gut irgendwann einmal ein paar Flaschen Wein und auch ein paar Euro abwerfen. Aber Geld sei in Italien mit anderen Dingen leichter verdient. Ihr geht es wirklich um etwas Größeres. Es geht um den Erhalt der Schönheit und der Tradition der Region. Sie wolle einfach gerne ein Teil davon sein. Seit sie an den Plänen für das Weingut tüftele, fühle sie sich so lebendig. Zwar hatte sie es noch nie so ausgedrückt, aber ja, in gewisser Weise fühle sie sich tatsächlich verantwortlich für das Wohlergehen und die Schönheit dieses Stück Landes.

Was mich an all diesen Beispielen beeindruckt. Die Akteure handeln und gestalten – zum hoffentlich Positiven in dieser Welt. Und ein wichtiger Treiber war und ist die Schönheit.

Was hält wohl Greta Thunberg von diesem Schlüsselloch?

Wenn ich ehrlich bin, so kann ich mir vorstellen, dass Greta Thunberg über die Botschaft dieses Essays nicht besonders glücklich ist. Aber ich weiß es natürlich nicht. Vielleich würde sie all jene belächeln, die „nur“ aus Liebe zur Schönheit danach trachten, die Welt zu verbessern. Vielleicht wäre sie sogar wütend: Was für ein Umweg! Den können wir uns nicht leisten. Wir alle müssen vernünftig handeln, aber nicht nur aus Liebe zur Schönheit, sondern aus „reiner“ Vernunft.  

Ich verstehe auch jeden, der an diesem Punkt meiner gedanklichen Reise zutiefst rebelliert. Ja, die Verantwortung für die Welt sollte ausreichen, um moralisch und konstruktiv zu handeln. Ich denke, also bin ich. Sie haben recht. Und doch ist der Mensch leider oft weit davon entfernt, seinem menschlichen Potenzial gerecht zu werden. Aber ästhetische Erkenntnis und das Streben nach Schönem haben das Potenzial, unser Handeln positiv zu beeinflussen. Das ist doch ein Anfang, oder etwa nicht?

Sie sagen nein? So ist das nicht? Alles nur für Idealisten. Die paar Ästheten retten die Welt noch lange nicht. Vielleicht denken auch Sie gerade an gerodete Regenwälder und überflutete Küsten, an Politiker, die dem Protektionismus und Nationalismus frönen und in kurzsichtigster Weise die Welt zerstören. Zu viele Entscheidungsträger haben die Verantwortung für das Wahre und Gute schon lange an den Nagel gehängt. Es gehört zwar zur menschlichen Existenz, Verantwortung zu übernehmen, aber die universelle Moral hat ihre Grenzen. Zudem ist das alles Augenwischerei. Solange Menschen nicht wissen, wie sie morgen ihre Kinder ernähren sollen, ist es eine Farce zu glaube, sie könnten für ihre Welt Verantwortung übernehmen.

Aha, dann liegt die Wahrheit also auf dem Tisch. Es gilt, die Welt zu retten und wir alle sind uns dessen zutiefst bewusst. Ja, auch in mir tobt der Realist, auch ich könnte kotzen. Wir müssen handeln, schlicht und einfach für eine überlebensfähige Welt. Im Grunde wissen wir es alle. Es braucht die große Kehrtwende, den großen systemisch-politischen Wurf.

Aber es rührt sich noch etwas Anderes in mir als das reine Realisten-Herz. Es ist der hoffnungsvolle Idealist. Bei allem Zorn und Realismus gehöre ich doch zu jenen, die sich einen Funken Hoffnung bewahren, dass möglichst viele Menschen durch ihr ganz persönliches Schlüsselloch blicken. Ganz besonders hoffe ich, dass jene, die die Macht und die Mittel haben, die Welt zu gestalten durch ihr Schlüsselloch blicken. Hier geht es um das Potential, für das der sinnliche Mensch zugänglich ist.

Vielleicht brauchen Mensch einfach einen „Umweg“. Vielleicht ist eben dies das Menschliche an sich. Die Schönheit alleine wird nicht reichen, um die Welt zu retten. Nein, vermutlich nicht. Und doch bin ich jedem dankbar, der aus dem ästhetischen Impuls heraus handelt. Es passiert. Es sind einige. Daher bleibe ich dabei, diesen Umweg zu würdigen. Jeder Handelnde bestätigt meine Hoffnung. Jedes Handeln ist wertvoll. Ein Hoch auf dieses Schlüsselloch!

Quellen: Versuch über die japanische Ästhetik, Donald Richie, MSB Verlag, Berlin 2020 / Weisheit des Zen, Hugo M. Enomiya-Lassalle, Kösel-Verlag GmbH & Co, München 1998 / Geschichte der Schönheit, Herausgeber Umberto Eco, dtv München 2006 / Inspiration Wabi, Axel Vervoordt, Verlagshaus Jacoby & Stuart, München 2013 / Handwerkskunst in Japan, Katharina Zettl und Uwe Röttgen, Dorling Kindersley Verlag, London 2021

Andreas Quast: Über einen japanischen Sinn für Ästhetik und dessen Gestaltungsprinzipien

https://followinghadrian.com/

https://www.ad-magazin.de/article/interview-brunello-cucinelli

https://mesay.biz/sake_Sarah.htm

https://web-japan.org/trends/people/peo030411.html

https://japan.kantei.go.jp/m-magazine/backnumber/2006/sarah.html

Lanz und Precht Podcast Ausgabe 48

Salon. Das Magazin für Gastlichkeit, Design und Kultur Nr. 20 – Artikel zu Brunello Cucinelli


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